Sehnsüchtig (German Edition)
Vorgarten, der das Wort kaum verdient, der gerade Platz für eine Hecke, ein paar Steinplatten und eine Wäscheleine bietet. Neben der Haustüre stehen zwei Fahrräder angekettet, ein praktisches, modernes Damenfahrrad und ein ziemlich altes Rennfahrrad mit altmodisch gebogenem Lenker. Alt, aber mit Stil, denkt Alys belustigt mit dem Blick auf das Fahrrad, das mit grösster Wahrscheinlichkeit Eliot gehört. Es ist die äusserste Wohnung im Reihenhaus, insgesamt muss es drei davon geben.
Ihr Blick hängt noch einen Augenblick an dem alten Fahrrad, dann geht sie zur Tür. „Agren/Wagner“ steht auf dem Klingelschild. Alys streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und drückt auf die Klingel. Sie kann den Ton im Haus widerhallen hören. Eine Weile ist es still.
Gerade als sie noch einmal klingeln will, nähern sich leichte Schritte der Tür. Dann geht die Tür auf und Irina kommt dahinter zum Vorschein. „Hallo Alys“, sagt sie freundlich. Sie ist kleiner als Alys sie in Erinnerung hatte, vielleicht fast zehn Zentimeter kleiner als sie. Blaue Augen blicken zu ihr auf, hell und klar, Frühlingshimmelblau. „Komm rein, wir haben noch Zeit für einen Kaffee“.
„Danke“. Alys folgt ihr über die Schwelle in einem Flur, der mit dunklen Holzdielen ausgelegt ist. Sie knarren unter jedem Schritt. Alys schlüpft aus ihren Stiefeln und stellt sie neben eine ganze Reihe Chucks in Männergrösse. Sie erkennt die roten und die weissen, die Eliot am Konzert im ‚Mon Amour’ getragen hat, aber da sind noch mehr; schwarze, graue mit Totenköpfen drauf, marineblaue ... er besitzt eine ganze Sammlung davon. Frauenschuhe sieht sie keine, aber falls Irina so viele Schuhe hat wie sie selbst, dann hat sie wohl irgendwo ein Extra-Regal dafür. Alys hängt ihren Mantel an den Kleiderständer hinter der Tür, ein wunderbar altmodisches und kunstvoll geschwungenes Modell. Irina lächelt sie an und sie folgt ihr durch den Flur. Eliots Verlobte ist schmal und zierlich, die grauen Röhrenjeans sitzen wie eine zweite Haut. Man sieht ihr nicht an, dass sie ein Kind geboren hat, das erst dreiviertel Jahre alt ist oder etwas mehr. Nur ihr Busen ist beneidenswert voll, vielleicht ein Überbleibsel vom Stillen?
„Das Wohnzimmer ist gleich hier“, Irina deutet auf die erste Tür, die links vom Flur abgeht. „Möchtest du einen Kaffee?“
„Sehr gerne, wenn es keine Umstände macht ...“
„Das macht es überhaupt nicht. Wie nimmst du ihn denn?“
„Einfach mit etwas Milch, bitte.“
„Super, setz dich schon mal hin, ich komme gleich ...“ Mit diesen Worten verschwindet sie durch die offene Tür gegenüber, Alys sieht aus dem Augenwinkel einen weiss und schwarz gefliesten Boden und eine Ikea-Küche in Rot.
Das Wohnzimmer ist grosszügig, wahrscheinlich der grösste Raum in der Wohnung, mit einer Glasfassade, die auf ein Stück Rasen mit einem einzelnen Baum und einer Schaukel hinausgeht. Dahinter eine Hecke. Auf dem alten Parkett liegt, in der Mitte des Raums, ein roter Teppich, so dick, dass ihre Füsse darin einsinken. Er lädt gerade dazu ein, sich mit einem guten Buch darauf zu legen und den ganzen Tag zu lesen. Dafür müsste man aber erst das Spielzeug wegräumen; Holzklötze in allen Farben, ein Bauernhaus mit einem Traktor und einem Anhänger, und eine ganze Herde Holztiere, Kühe, Schweine, ein Pferd, ein Hund und ganz viele Hühner. Ausserdem Bilderbücher und eine Miniplastikgitarre. Alys grinst. Ein kleines Xylophon gibt es auch.
Alys setzt sich auf das schwarze Ledersofa. Eine Wand des Raums wird komplett von einem CD-Regal und einer offensichtlich teuren Stereoanlage eingenommen. Man sieht ihr den Musikliebhaber-Eigentümer an. Es müssen Hunderte oder Tausende CDs sein. Dafür sieht sie keinen Fernseher. Die Wand hinter ihr verschwindet komplett hinter einem Regal, das bis auf den letzten Platz mit Büchern gefüllt ist. An der einzig freien Wand hängt eine Lampe, die der Leuchtschrift einer Bar nachempfunden ist, „Love“ heisst das geschwungene, rot leuchtende Wort. Es erinnert Alys’ an die Leuchtanzeige von „Betty’s Diner“. Love. Liebe.
An der Decke hängt ein schöner Kronleuchter mit geschliffenen Glastropfen, in denen sich das Licht fängt; sieht aus wie ein Schatz, den die beiden im Brockenhaus gefunden haben. Der Beistelltisch wiederum ist modern und zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiss. Der Laptop darauf summt zufrieden vor sich hin. Eliot lächelt ihr vom Bildschirm entgegen, mit einem
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