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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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wie sonst was. An mich kam man nicht heran. Ich war vollkommen überzeugte Kommunistin.
    JS     Warum wollten die Westberliner die Wahlhelfer aus dem Verkehr ziehen?
    GW     Es herrschte Kalter Krieg!
    CW     Sie wollten nicht, dass Wahlhelfer aus der DDR herüberkamen. Nach einer Woche Haft holten mich zwei Leute von der Universität ab. Als ich wieder zu Hause war, beschwerte ich mich schriftlich, dass man uns unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Westberlin geschickt hatte. Die Antwort war: »Die Partei weiß, was sie tut.« Das war wieder ein Punkt, an dem ich dachte: Ich bin doch nicht deren Mumpelpiepel, mit dem sie machen können, was sie wollen. Die Partei weiß, dass ich auf ihrer Seite bin und mich einsetzen will, aber dann soll sie uns auch die Wahrheit sagen.
    Wir sitzen noch immer unter den Bäumen vor dem Haus. Es ist sehr heiß. Auf der Dorfstraße sehen wir Urlauber, die mit Badesachen unterm Arm zum nahe gelegenen See laufen. Meine Großeltern erzählen sehr lebendig, ab und zu amüsieren sie sich über sich selbst. Die heftigen ideologischen Kämpfe der Vergangenheit wirken in dem sommerlichen Idyll surreal. Mein Großvater bringt Erdbeeren aus der Küche.
    JS     Wenn ihr so treue Parteigenossen wart, wie habt ihr eigentlich den 17 . Juni 1953 erlebt?
    GW     Ich durfte als Angestellter des Rundfunks nicht nach Westberlin fahren. Diese Regel hätte man durchbrechen können, hat man aber nicht. Wir waren ziemlich brav. Dann kam der 17 . Juni. Das war eine Kampfsituation. Kalter Krieg. Wir hatten ein Fabrikgebäude in Rummelsburg zum Rundfunkgebäude umfunktioniert, und in der Übergangszeit sendeten wir aus Bootshäusern in Grünau. Dieses Rundfunkgebäude hätten die Mitarbeiter gar nicht verteidigen können, sie standen mit einem Wasserschlauch an der Tür. Danach wurden die Kampfgruppen in den Betrieben gebildet.
    CW     Ich war damals noch in Leipzig und studierte dort. Zunächst habe ich die Ereignisse am 17 . Juni als einen gegen uns, gegen die Partei gerichteten Aufstand erlebt. Durch die Stadt zogen Arbeiter oder Verbände, die sich antiparteilich gebärdeten. Ich trug mein Parteiabzeichen und versuchte, mit den Menschen zu diskutieren, aber sie reagierten aufgebracht auf mich.
    JS     Es ging doch hauptsächlich darum, dass die neuen Arbeitsnormen nicht zu schaffen waren.
    GW     Der Auslöser waren die Normerhöhungen gewesen. Die hatte man am Vorabend zurückgenommen. Doch da war es zu spät.
    CW     Aber das weitete sich aus. Der Aufstand richtete sich gegen diese Regierung, diese Partei. In Leipzig fuhren Straßenbahnen durch die Stadt, auf denen stand: »Weg mit dem Spitzbart!« Das war eine Anspielung auf den Spitzbart von Walter Ulbricht. Wir Studenten wischten das weg und gingen sofort in unser Institut. Wir dachten, da müssten Parteigenossen sein, die uns sagen, was wir machen sollen. Aber es war keiner da. Wir riefen bei den oberen Parteigremien an, aber auch da meldete sich niemand. Die Funktionäre hatten sich verzogen, waren feige. Wir liefen zur FDJ -Leitung, aber dort warfen schon die »Konterrevolutionäre« Schreibmaschinen und Akten aus dem Fenster.
    Die Studenten der Historischen Fakultät meinten: »Kommt mit, wir verteidigen unser Institut!« Dort verbarrikadierten wir uns. Von drinnen sahen wir, wie die Aufständischen draußen vorbeizogen. Das waren zum Teil wilde Typen mit nackten Oberkörpern und Knüppeln in den Händen. Dann kamen die sowjetischen Panzer. Abends wurden Nachtwachen eingerichtet. Ich sagte, ich müsse jetzt nach Hause, ich hätte ein Kind. Die anderen antworteten, das ginge nicht. Zum Glück war mein Bruder gerade zu Besuch, und ich war etwas beruhigt. Nachts fuhr ich mit der Straßenbahn heim. Unterwegs sammelte ich eine ganze Hand voll Parteiabzeichen auf, die hatten viele weggeworfen. Ich kriegte eine solche Wut. Also trug ich meins extra und merkte, wie die Menschen in meiner Umgebung von mir abrückten. Am nächsten Tag gingen wir in ein Restaurant. Als ich dort mit meinem Parteiabzeichen reinkam, erhoben sich die Leute vom Tisch und setzten sich weg. Obwohl auch ich sehr ins Zweifeln geriet, legte ich es nicht ab. Nach dem Aufstand gab es Parteiversammlungen, auf denen ich forderte, dass über die Ursachen des Aufstandes diskutiert werden müsse. Die ersten paar Tage war das noch möglich, dann kippte die Stimmung, und der 17 . Juni wurde als »arbeiterfeindlicher, konterrevolutionärer Aufstand«

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