Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Polizistin etwas. »Jetzt verletzen Sie mich auch noch!«, rief ich. »Sind die bei Ihnen alle so?«, fragte die Polizistin. »Nicht alle, aber viele«, antwortete ich. Dann wurden wir in der grünen Minna nach Moabit in die Untersuchungshaft gefahren. Meine Mitstreiterin kam ins Jugendgefängnis. Sie hatte Angst, blieb aber tapfer.
Ich saß in einer Zelle. Das ist wirklich nicht angenehm. Wirklich nicht. Zunächst saß ich mit vier weiteren Frauen in einer Art Zwischenzelle. Das war unglaublich. Zuerst fragten die mich natürlich, warum ich dort sei. »Na, ich hab Flugblätter verteilt.« – »Ach politisch. So ein Quatsch!«, sagten sie. Damit war ich für sie aus dem Rennen. Die eine murmelte in einem fort vor sich hin: »Nein, ich werde nichts sagen.« Nun war ich neugierig, was passiert war. Es stellte sich heraus, sie war Zimmermädchen in einem Hotel, und auf ihrer Etage war Schmuck verschwunden. Sie erzählte es so, dass klar war, dass sie den Schmuck gestohlen und versteckt hatte. Im Stillen dachte ich, morgen wird sie bestimmt weich werden. Eine andere rannte hin und her und wiederholte immer wieder: »Wegen eener Zahnbürste, wegen eener Zahnbürste!« Irgendwann fragte ich: »Was ist denn mit der Zahnbürste?« Sie war mit ihrem Mann spazieren gegangen und an einer Drogerie vorbeigekommen, in der sie eine Kleinigkeit gekauft hatten. Der Drogist musste ins Lager, und vor der Frau auf dem Ladentisch stand ein Glas mit Zahnbürsten. Sie konnte nicht widerstehen. Kaum waren die beiden an der nächsten Ecke angelangt, war die Polizei schon hinter ihnen. Sie trug die Zahnbürste in der Jackentasche, da hat die Polizei sie gleich mitgenommen. Das war auch nicht das erste Mal. Sie sagte: »Na, mein Oller, wenn sie dem bloß nicht auf die Seele knien. Der wird bestimmt alles sagen. Hauptsache, der zeigt denen nicht die Diele! Wenn sie die Diele hochnehmen, was da alles drunter ist!« Mit anderen Worten, sie hatte ein ganzes Warenlager zu Hause unter der Küchendiele. Sie war einschlägig vorbestraft und konnte es nicht fassen, dass sie nun wegen einer Zahnbürste in der Zelle saß. Die Frauen waren begierig darauf, mir ihre Geschichten zu erzählen. Und ich habe sie bestärkt, sie sollten hart bleiben …
JS (lacht) … hart bleiben gegen den Klassenfeind?
CW Sie sollten den bürgerlichen Reichen nicht nachgeben. Ich sagte, sie seien die Arbeiterklasse, die Armen, die sowieso ungerecht behandelt werden würden. Am nächsten Tag kam ich in eine Einzelzelle in Moabit. Darin standen ein Bett, ein Hocker und ein Schränkchen. An der Wand hing ein Zahnputzbecher. Am ersten Tag besuchte mich dort ein Pfarrer und wollte wissen, welcher Religion ich angehöre, ob ich Zuspruch brauche. »Ich gehöre keiner Religion an«, sagte ich. Daraufhin wurde auf das Schildchen hinter meinen Namen das Wort »Dissident« geschrieben: Da war ich das erste Mal Dissident. Daher kannte ich überhaupt die Bedeutung des Wortes: keines Glaubens. Der Pfarrer fragte, was ich lesen wolle, und ich glaube, ich antwortete: Marx. Ich bekam dann ein dickes Buch mit Shakespeare-Dramen, aber nicht etwa die Originale. Das wäre gut gewesen, sondern sehr banale Nacherzählungen.
GW Dann begannen die Solidaritätsaktionen für Christa. Vertreter von Betrieben kamen mit riesigen Torten vorbei. Wir konnten Christa auch im Gefängnis besuchen. Ihre Mutter kam, und ihr Vater hat auf den Untersuchungsrichter eingeredet. Der sagte, er verstehe das alles sowieso nicht. Ein paar Tage vor der Wahl in Westberlin wurde sie wieder freigelassen.
CW Ich war also eine Woche im Gefängnis.
JS Wie hast du von der Verhaftung erfahren, Opa?
GW Ganz schnell. Christa kehrte nicht zurück, und dann kam die Nachricht von ihrer Verhaftung über den Schriftstellerverband.
JS Bist du gleich zu ihr gefahren?
GW Nein, man musste erst eine Besuchserlaubnis beantragen, danach habe ich sie besucht.
CW Es stand sogar in der Zeitung. Mir ging es in der Haft nicht gut. Ich war wirklich sehr aufgeregt und hatte Angst. Ich konnte im Gefängnis nichts essen, mein Magen war zu. Meine Besucher brachten mir Obst und Pralinen mit. In meiner Zelle standen lauter Konfektschachteln und Kuchen. Aber es war trotzdem nicht angenehm. Jeden Tag wurde ich verhört. Die Wahlhelfer sollten durch die Untersuchungshaft aus dem Verkehr gezogen werden. Die Verhörer versuchten, auf mich einzureden. Ich blieb natürlich steif
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