Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
niedergerungen werden und wir müssten die neue Macht vertreten und verteidigen. Nach dem Spruch von Johannes R. Becher 43 : »Die Macht ist euch gegeben, dass ihr sie nie, nie mehr aus euren Händen gebt!« Das wurde uns immer entgegengehalten. Und wir dachten, das sind alles im Klassenkampf bewährte Genossen, es kann nicht sein, dass sie unrecht haben. Dann muss es wohl so sein.
Einmal, sehr früh, geschah noch etwas, wo ich mich persönlich betrogen fühlte. Das war in Berlin 1954 , da gab es eine Wahl in Westberlin. Die Mauer stand noch nicht, und wir wurden vom Schriftstellerverband als Wahlhelfer für die SED im Westen eingesetzt. Im Gewerkschaftshaus Unter den Linden wurden wir eingewiesen, uns wurde Material gegeben und gesagt: »Ihr seid legale Wahlhelfer!« Die Genossen gaben uns einen Ausweis mit unserem Namen darauf. »Ihr müsst keine Angst haben«, sagten sie. »Aber lasst die Wahlhelferausweise nicht in die Hände des Klassenfeindes fallen.« Da hätte ich sofort aufmerken müssen, denn was sollte das Problem sein, wenn alles legal war? Dann bin ich mit einer Mitstreiterin, die ziemliche Angst hatte, nach Westberlin gefahren …
GW Sie sollten mit den Leuten diskutieren.
CW So weit kamen wir doch gar nicht, Gerd! Wir betraten das erste Haus und machten es völlig falsch. Wir sollten klingeln und den Leuten Wahlmaterial übergeben. Wir fingen in dem Haus aber in der ersten Etage an anstatt oben in der letzten. Unten war keiner zu Hause. Gott sei Dank! Also steckten wir das Wahlmaterial durch die Briefschlitze. Im ganzen Haus war niemand zu Hause. Als wir wieder unten ankamen, erwartete uns schon ein Westberliner Polizist. Er war angerufen worden. »Was machen Sie denn hier?«, fragte er. »Wir sind Wahlhelfer der SED , ganz legal.« – »Na dann kommen Sie mal mit«, sagte der Polizist. Da war ich noch immer frech und hochgemut. Draußen spielte ein Junge im Rinnstein, er schaute auf und rief: »Kommunisten! Alle aufhängen!« Und ich sagte zu ihm: »Dann habt ihr aber viel zu tun!«
Der Polizist brachte uns zum nächsten Polizeirevier. Es war wie in einem Krimi. Dort sollten wir uns auf eine Bank setzen. Schließlich wurden wir vom Revierleiter empfangen. Ich sagte: »Wir sind absolut legal hier, und ich protestiere.« Er sah sich unser Wahlmaterial an und meinte, dass ein Stempel fehle, das Material sei nicht legal. Das hieß, unsere Leute hatten uns belogen. Unser Material war ein einziger Stuss gewesen. Ich hatte es zuvor in der S-Bahn gelesen und dachte, kein Mensch wird sich von derart blöder Propaganda überzeugen lassen. Es war beschämend!
JS Was stand denn drin?
CW Blöde Losungen in einer furchtbaren Sprache. Deshalb war ich heilfroh, dass wir niemanden in dem Haus angetroffen hatten. Nun stellte sich heraus, dass dieser Stempel fehlte. Ich hatte eine solche Wut auf die Genossen, die uns geschickt hatten. Das hätten sie uns doch sagen können. Wir wären trotzdem nach Westberlin gefahren, aber wir wären wenigstens vorbereitet gewesen. Ich fing an, mit dem Revierleiter zu diskutieren. Der sagte: »Sie sind doch eine kluge Frau. Dass Sie so einen Blödsinn glauben können!« Nach einiger Zeit forderte er mich auf, mich umzudrehen. Über der Bank, auf der wir saßen, hing eine große Karte der Sowjetunion. Darauf waren lauter gelbe Rechtecke eingezeichnet. Er meinte, die Rechtecke stellten alle Lager dar, in denen politische Häftlinge inhaftiert seien. Ich glaubte ihm nicht. Er sagte: »Sie können es mir ruhig glauben, ich bin selbst in so einem Lager gewesen. Ich gehöre zu denen, die von Konrad Adenauer dort rausgeholt wurden.« Da war ich wieder obenauf und sagte: »Ach so, dann sind Sie ein Kriegsverbrecher. Dann rede ich nicht mehr mit Ihnen!« Wahrscheinlich war er Sozialdemokrat gewesen. Ich glaubte damals nicht, dass es in der Sowjetunion so viele Lager gab.
Nach einiger Zeit kam ein Leutnant, der uns verhörte. Er ordnete eine Leibesvisitation an. Ich weigerte mich. »Nur mit einer Frau«, sagte ich. Also holten sie eine Wachtmeisterin, und die sagte, ich solle mich ausziehen. Ich hatte aber noch diesen Wahlhelferausweis. Ich sagte: »Kommt nicht in Frage, hier sind keine Vorhänge!« Dann zog ich mich hinter einer Schranktür aus. In der Hand hielt ich den Ausweis, ein Pappblatt. Als die Beamtin den haben wollte, zerriss ich ihn vor ihren Augen. Ich sollte ihn ja nicht dem Klassenfeind in die Hände fallen lassen. Dabei kratzte mich die
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