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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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gewertet. Von da an wurde nicht mehr darüber gesprochen, warum die Menschen so aufgebracht waren. Das war ein weiterer Punkt, an dem ich dachte: Das geht nicht!
    JS     Die Aufständischen waren doch Arbeiter. Wie erklärte man sich in der Partei, dass sich die Arbeiter gegen ihren eigenen, gegen den Arbeiterstaat erhoben?
    CW     Das hat man eben leider nicht erklärt. Man hat gesagt, das waren »Konterrevolutionäre«. Die wurden verführt. Und der West-Radiosender RIAS hatte die Stimmung natürlich mit angeheizt.
    GW     Der DDR -Justizminister Max Fechner hatte zuvor noch verkündet, die Arbeiter hätten das Recht zu streiken. Er wurde sofort abgesetzt und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Von da ab gab es keine Selbstkritik mehr. Es hieß, es war falsch, dem Gegner einen Fußbreit Boden zu schenken.
    JS     Selbstkritik musste sogar ich noch in der Schule üben. Am eindrucksvollsten hat für mich Wolfgang Leonhard in seinem Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder 44 die ständige massive Selbstkritik innerhalb der Partei beschrieben.
    CW     Die gab es auch weiterhin. Aber die Selbstkritik-Kampagnen waren immer gegen die anderen gerichtet. Die Parteispitze selbst übte doch keine Selbstkritik. Innerhalb der Partei musste man das immer mal wieder machen. In den Tagen nach dem 17 . Juni gab es unter anderen noch einen Selbstkritik-Auftritt von Ministerpräsident Otto Grotewohl im Braunkohlekombinat in Böhlen, er sagte, die Partei habe auch Fehler gemacht. Von da an hieß es aber: Keine Fehlerdiskussion mehr! Nie mehr.
    GW     Der Erste Sekretär des Schriftstellerverbandes Kurt Barthel verhöhnte die Bauarbeiter von der Stalinallee, dass sie nun vieles wiedergutzumachen hätten.
    JS     Aber das waren doch »ihre Arbeiter«.
    GW     Da wurde viel geredet. Die Arbeiter seien vom Westen gesteuert oder alte Nazis. Ein wenig ist es auch so gewesen.
    JS     Und dann kamen die sowjetischen Panzer, damit hatte doch sicher niemand gerechnet?
    CW     Nein.
    GW     Walter Ulbricht hatte sich nach Berlin-Karlshorst zu den Russen gerettet. Bei mir im Rundfunk arbeiteten zwei Kollegen, die aus der Sowjetunion kamen. Die sagten: »Gott sei Dank, die Freunde werden alles in die Hand nehmen!«
    JS     Waren die Sowjets für euch auch die Freunde?
    CW     In gewisser Weise schon. Es war zwiespältig.
    GW     Es war alles sehr undurchsichtig. Wir sagten natürlich, der Weltfrieden sei in Gefahr.
    JS     Da kamen die »Freunde« und richteten sich gegen das eigene Volk, zu dem man auch gehörte.
    GW     Man konnte es auch so sehen: Ohne die Sowjets kämen die alten Nazis wieder. Von Stephan Hermlin 45 , der jüdischer Herkunft war, wurden damals in Magdeburg Bücher verbrannt. Solche Dinge passierten eben auch.
    CW     Der Zweite Weltkrieg war erst acht Jahre vorüber.
    GW     Eine Woche nach dem 17 . Juni sah ich das einzige Mal Ulbricht von nahem. Ich war am Wochenende Chef vom Dienst beim Rundfunk. Nachts kam plötzlich ein Anruf: Der Ulbricht wird kommen! Dann kam er, setzte sich an ein Tischchen und schrieb mit der Hand eine Erklärung. Darin hieß es: Ab Mitternacht fährt die S-Bahn wieder nach Westberlin. Der S-Bahn-Verkehr war zuvor unterbrochen worden. Das wurde gesendet. Dann kam ein Anruf, ein Mann mit hartem russischen Akzent fragte: Wer hat diese Nachricht durchgegeben? Walter Ulbricht. Soso. Bumm, wurde der Hörer aufgelegt. Ulbricht hatte die Russen offensichtlich nicht davon informiert. Das war seine eigene Initiative gewesen. Er wollte eine schnelle Normalisierung der Verhältnisse.
    CW     Deshalb erschien Ulbricht persönlich. Hätten die Rundfunkredakteure ihn nicht leibhaftig vor Augen gehabt, hätte man das nicht senden können.
    JS     Wie habt ihr in der Zeit die Sowjetunion und Stalin gesehen?
    CW     Stalin war im März 1953 gestorben. Da habe ich noch getrauert. Ich dachte, das sei ein großer Verlust für das Weltfriedenslager. Die Enthüllungen darüber, was Stalin verbrochen hatte, begannen erst 1956 . Da lagen drei Jahre dazwischen, in denen allmählich einiges durchsickerte und ich mich von dem Glauben löste, dass er ein großer Held des Weltfriedenslagers gewesen war.
    JS     Existierte in der DDR auch ein Stalin-Kult wie in der Sowjetunion?
    GW     Als seine Arbeit Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft erschien, fanden wir das einen ziemlichen Blödsinn. Das sollte nun der Gipfel der

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