Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Anna, du bist nun nicht dafür, dass sie ausgeschlossen werden?«
Ich dachte nur, bin ich jetzt im Kindergarten? Ich bekam fast einen Lachanfall. Nun war die Frage: Was machen sie jetzt? Die richtige Vorstandssitzung sollte noch folgen. Es gab eine Pause, die mussten erst einmal beraten. Draußen war schon das Buffet aufgebaut. Volker Braun und ich gingen spazieren und rätselten, wie die Verbandsfunktionäre dieses Problem nun lösen würden. Dann ging die Versammlung weiter, und die Nicht-Genossen kamen hinzu, unter ihnen Franz Fühmann, der den Protestbrief auch unterzeichnet hatte. Der Tagesordnungspunkt »Ausschluss« wurde einfach übergangen. »Wieso?«, fragte Fühmann. Er wolle auch ausgeschlossen werden. Dann erklärten sie ihm, es hätten sich neue Sachen ergeben. Nun seien sie der Meinung, sie sollten den Punkt fallenlassen. »Ach so«, sagte Fühmann. »So ein Quatsch. Ihr seht mich hier nie wieder!« Er nahm seine Sachen, ging seiner Wege und tauchte nie wieder dort auf.
JS Du erzählst das jetzt eher amüsant. Damals fandst du das bestimmt nicht komisch, oder?
CW Man konnte schon darüber lachen, aber lustig war es nicht.
JS In dieser Zeit müsst ihr doch sehr angespannt gewesen sein.
CW Ja, ich vielleicht noch mehr als Gerd. Ich war sehr, sehr angespannt, hatte so eine Kreislaufsache.
JS Ihr scheint andauernd nur mit politischen Versammlungen, Positionierungen und Kämpfen beschäftigt gewesen zu sein.
GW Ja sicher, mit was denn sonst?
JS Das zeigt auch einen sehr engen Blick auf die Welt. Für mich klingt das heute ein wenig seltsam, mit welcher Vehemenz und Härte ihr über kleinste ideologische Abweichungen gestritten habt. Obwohl auch ich noch FDJ -Versammlungen erlebt habe, bei denen man Selbstkritik üben sollte. Das ist nicht vergleichbar mit euren Konflikten. Aber ich weiß noch, in was für eine Krise es mich stürzte, als ich mit 14 in die FDJ eintreten sollte. Ich wollte nicht, hatte aber Angst. Ich dachte, ich würde mir meine ganze Zukunft verbauen, könnte wahrscheinlich kein Abitur machen und nicht studieren. Einerseits wollte ich meiner Überzeugung treu bleiben, andererseits fürchtete ich die Konsequenzen. Ich konnte auch nicht behaupten, ich sei religiös. Das wurde ja manchmal noch akzeptiert.
Obwohl die FDJ in meinem Umfeld in den achtziger Jahren sowieso kaum noch ernst genommen wurde. Meine Mitschüler und ich schnitten die Kragen unserer Blauhemden ab, steckten sie unter unsere Pullover, so dass nur sie noch aus ihnen hervorschauten. Das ganze Hemd wollten nur noch wenige tragen. Aber solche ideologischen Kämpfe wie bei euch habe ich nicht mehr erlebt. Dazu war das System schon zu erschöpft.
Von meinem Wehrerziehungslehrer habe ich euch schon einmal erzählt. Der war schlimm. In der neunten Klasse hatten wir zwei Wochen Wehrerziehung in der Schule. Die Jungs mussten in ein Lager fahren, die Mädchen durften dableiben. Wir übten Krieg, trugen Uniformen, Gasmasken, marschierten um den Schulhof und sangen Kampflieder wie: »Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsere Schützengräben aus.« Dann wurden aus unserer Klasse Gruppenführer gewählt. Die fanden plötzlich Spaß daran, uns, ihre Mitschüler, zu quälen, ließen uns zum Beispiel im Regen durch den Schlamm robben. Am zweiten Tag bekam ich von der Uniform am ganzen Körper Ausschlag und konnte mich krankmelden. Ich versuchte, mit anderen aus meiner Klasse darüber zu sprechen. Aber da war nur Schweigen, sie empfanden das anscheinend nicht so wie ich. Ich fühlte mich in meinem Entsetzen ziemlich allein. Manchmal denke ich, im Vergleich dazu geht es in meinem heutigen Leben um geradezu harmlose Fragen.
CW Im Schriftstellerverband merkten damals alle, dass etwas Schlimmes vor sich ging. Aber es gab sehr unterschiedliche Meinungen darüber. Was sollte man auch sagen, wenn die armen alten Genossen, die in der Emigration, im KZ oder auch in Moskau und in russischen Lagern gewesen waren, wenn die bei jeder Sache sofort das Signal vernahmen: Jetzt kommt die Konterrevolution! Anna Seghers rief mich nach der Biermann-Sache andauernd an und sagte: »Jetzt hupfste über den Graben!« Und ich antwortete: »Nein!«
JS Das hat mich in der DDR immer genervt – dieses: Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns!
CW Kurz darauf hatte Anna Geburtstag und sagte: »Komm bloß her und lass mich nicht mit diesen Schranzen allein.«
GW
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