Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
wählt, weiß ich nicht.
CW Er hält den Kapitalismus für die richtige Gesellschaft?
JS Ich denke ja, obwohl er auch dessen Krise sieht.
CW Und wie sieht das deine Generation?
JS Der Teil meiner Generation, der im Westen aufgewachsen ist, kennt keine andere Gesellschaftsform. Ich finde es interessant, dass sich viele von ihnen gar nicht vorstellen können, dass überhaupt ein anderes System existieren oder unser jetziges System einmal zusammenbrechen könnte. Viele denken, diese Gesellschaftsordnung ist die einzige, die funktioniert, und die muss nun möglichst überall auf der Welt funktionieren. Ein naiver Gedanke!
CW Über die Bankenkrise, von der ich wenig verstehe, hört man doch sehr besorgte Stimmen. Wenn es heute wirklich zu einem Crash käme, wäre das vergleichbar mit der Krise Ende der zwanziger Jahre. Das müsste doch auch bei deinen Kollegen Erschrecken auslösen.
JS Diese Szenarien kann man sich nicht ständig im Detail ausmalen.
GW Helmut Schmidt hat neulich ein sehr düsteres Bild gemalt. Durch die Überbevölkerung und das Aufkommen des globalen Islamismus würden ganz neue Konstellationen in der Welt entstehen. Warum sollte nicht doch einer mal Atomwaffen einsetzen? Es kann auch sehr schnell sehr eindeutig werden, wenn die USA tatsächlich im Iran zuschlagen.
CW Ich habe Angst vor dem fanatischen Islamismus.
JS Ich glaube, wir wissen ziemlich wenig über den Islam und den Islamismus. In den vergangenen Jahren habe ich viele Geschichten über Muslime geschrieben, auch um sie besser zu verstehen. Dabei merkte ich, wie wenig ich über sie weiß und wie wenig ich sie verstehe oder mich in ihren Glauben hineinversetzen kann. Es wird nun oft von einem »Kampf der Kulturen« gesprochen. Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist. Wart ihr eigentlich jemals im Nahen Osten, in Asien oder in Afrika?
CW Davor habe ich mich immer gedrückt. Dorthin wollte ich nie. Ich war zu feige. Ich hatte mehrmals Einladungen nach Japan und bin nie hingefahren.
GW Das sind so fremde Kulturen. Als Tourist schaut und staunt man nur. Als wir damals 1980 in Griechenland waren, das war eine richtige Eroberung einer vergangenen minoischen Kultur. Oder die USA . Das hatte aber auch mit unserer Arbeit zu tun.
JS Das heißt, ihr habt euren Kulturkreis nie verlassen.
CW Nein. Von einem bestimmten Punkt an wurde mir bewusst, dass ich das nicht will. Ich bin eurozentriert und schaffe es nicht, noch mehr aufzunehmen und zu verarbeiten.
JS Nicht einmal in der DDR hattet ihr Fernweh?
CW Wir waren in Georgien am Schwarzen Meer. Das war auch interessant.
JS Das ist mir ganz und gar unbegreiflich. Heute reisen die meisten schon früh ins Ausland, leben, studieren oder arbeiten ein paar Jahre woanders. Auslandserfahrung gehört schlicht dazu. Ich hatte schon immer extremes Fernweh. Das ist bis heute so geblieben.
CW Ja, du hattest das von Anfang an.
GW Warum hätte man sich die Pyramiden in Ägypten ansehen sollen? Na gut, du siehst sie und dann …
CW … die Pyramiden sind ein gutes Beispiel. Wie sie aussehen, wissen wir aus dem Fernsehen. Da schaue ich mir solche Sendungen immer an, aber ich muss da nicht hin. Ich lese, wie Ingeborg Bachmann die Pyramiden erlebt hat. Aber Griechenland damals war eindrucksvoll, die minoische Kultur musste ich gesehen haben, diese wunderbaren minoischen Fresken.
JS Ich wollte immer selbst überallhin reisen, alles sehen, schon von klein auf.
CW Es war ganz klar, dass du, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, nicht mehr lange in der DDR geblieben wärst.
JS Das wusstet ihr damals schon?
CW Ja. Annette und Honza wollten ja auch vor dem Mauerfall weg. Sie kamen zu uns und meinten, dass könnten sie nur mit unserer Hilfe schaffen. Dann kam der Reformprozess in Gang, und das hatte sich erledigt.
JS Da war ich stinksauer. Ich wähnte mich schon im Westen, und Annette und Honza begannen, sich im Neuen Forum zu engagieren, und meinten plötzlich, sie wollten bleiben. Ich sprach zwei Wochen kein Wort mit ihnen. Damals hatte ich einen Freund aus dem Westen, einen Österreicher. Als ich so 15 , 16 war, kam er mich einmal in Ostberlin besuchen, jeden Tag musste ich ihn um Mitternacht zum Grenzübergang an der Friedrichstraße zurückbringen. Dort wartete ich auf ihn, während er eine System-Schleife drehte. Nach
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