Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
wurde nicht diskutiert. Man sorgte dafür, dass Frauen nach einer gewissen Zeit wieder in ihren Beruf zurückkehren konnten. Sie wurden auch gebraucht.
GW Als wir Eltern wurden, herrschte Aufbaustimmung. Überall wurden Leute gesucht. Ich kam sofort beim Rundfunk unter, obwohl ich nur vier Semester studiert hatte.
JS Ihr hattet das tolle Gefühl, gebraucht zu werden!
CW / GW Absolut!
GW Mit meinen vier Semestern Germanistik und den Georg-Lukács-Theorien war ich der Star beim Rundfunk. Wir schrieben die ersten Kritiken, Christa wurde in der Neuen deutschen Literatur publiziert. Mir wurde gesagt, mit meinem Start könne ich doch die ganze Literaturkritik übernehmen. So wurde man angesehen. Nach einem halben Jahr wurde ich Redakteur, und nach einem Jahr war ich schon Redaktionsleiter. Dadurch bekam man Rückenwind und Selbstbewusstsein.
JS Eigentlich wart ihr beide einmal Journalisten.
GW Ich ja.
CW Nicht ganz.
GW Journalist ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich war Literaturredakteur, wollte Literatursendungen machen, Kritiken schreiben.
CW Wenn ich jetzt zurückdenke, hatten wir das Gefühl, unsere Generation wird diese neue Gesellschaft aufbauen. Dafür werden wir gebraucht. Wir wissen, was wir wollen, und wir schaffen das. Wenn man heute Gedichte oder Lieder aus dieser Zeit liest, schlägt einem dieser merkwürdige Optimismus entgegen, über den man jetzt manchmal nur mit den Schultern zucken kann. Es war wenig reflektiert – eben: Bau auf! Bau auf!
JS Hat sich durch die Geburt des Kindes eure Beziehung verändert?
CW Wir waren auf einmal getrennt, weil Gerd dann in Berlin arbeitete und wir eine Wochenend-Ehe führten.
GW Heute würde man das vielleicht als Konfliktsituation ansehen, die es damals in dem Sinne aber nicht war. Ich war froh, dass ich durchstarten konnte, und Christa war froh, dass sie an der Universität bleiben konnte.
CW Mir war klar, dass wir uns zusammen in Berlin niederlassen wollten. Das war nicht so einfach. Nach Berlin kam man nur, wenn man einen Arbeitsplatz nachweisen konnte, und einen Arbeitsplatz kriegte man nur, wenn man eine Wohnungszuweisung bekam.
GW Zuerst hatten wir ein winziges Zimmer in Köpenick. Nach dem Studium kriegte Christa die Stelle im Schriftstellerverband, da war Annette bei Christas Mutter, und wir bemühten uns um eine Wohnung.
JS Die DDR -Doktrin war doch, dass Kinder möglichst früh fremd betreut werden sollten.
CW Zu der Zeit noch nicht.
GW Für Annette hatten wir Kindermädchen, später Tante Grete, die dann in den Westen ging, und wir saßen nun da. Als ich beim Rundfunk angestellt war, hatte ich ein striktes Verbot, in den Westen zu fahren. Aber Tante Grete fuhr mit Annettchen auf den Westberliner Funkturm.
JS Ihr seid nie gefahren?
CW Es gab die S-Bahnen von der Friedrichstraße aus, die rauschten nach Potsdam durch, ohne in Westberlin zu halten. Die wurden die »Bonzenschleudern« genannt. Die nahmen wir, wenn wir zu meinen Eltern nach Petzow fuhren.
GW Einmal kaufte ich mir drüben ein paar Cordhosen. Ich las auch die Westpresse. Wir Rundfunkredakteure vom Deutschlandsender wurden im Westen stark kontrolliert, einmal musste unser Zug an der innerdeutschen bayerischen Grenze lange warten, weil die Grenzer noch in unsere Tonbänder mit den Autoreninterviews reinhörten.
JS Noch einmal zurück zur Kindererziehung, habt ihr euch nun darüber Gedanken gemacht?
CW Mein lieber Mann sagte immer: »Wachsen lassen!« Das war sein Erziehungsgrundsatz. Ich hätte dem zugestimmt, war aber von meiner Natur und meiner eigenen Erziehung her gewohnt, etwas stärker einzugreifen. Ich war ängstlicher, habe mehr Grenzen gesetzt, damit nichts passiert. Annette wirft mir heute noch vor, dass sie viel zu brav war, während Tinka gar nicht daran dachte, brav zu sein.
GW Bei Annette waren auch wir noch brav. Als Tinka 1956 geboren wurde, waren wir schon ganz andere Leute. Vier Jahre machen einen großen Unterschied.
JS Spielten in eurer Kindheit Schläge noch eine Rolle?
GW Während der Nazizeit gab es in der Schule »Handschmitzchen«, ein Lehrer schlug mit einem dünnen Rohrstöckchen auf die Handflächen. Das tat ein bisschen weh.
CW Bei mir gab es das überhaupt nicht. Bei meinem Bruder wurde in der Schule noch geprügelt. Zu Hause gar
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