Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
nicht. Mein Vater war sehr gutmütig, sehr weich. Er konnte gar nicht erziehen. Meine Mutter war viel strenger. Sie hatte genauere Vorstellungen davon, wie man sich zu verhalten hat. Dass ich länger abends wegblieb, das gab es nicht. Als ich 15 war, mussten wir aus unserer Heimatstadt fliehen, dadurch geriet alles so durcheinander, dass man nicht mehr von Erziehung reden konnte. Im Gegenteil. Ich kümmerte mich um meine Eltern. Später besorgte ich ihnen diesen Posten als Leiter im Schriftstellerheim. Sie waren völlig wurzellos. Heute tut mir das leid, ich glaube, ich habe ihnen nicht genügend gezeigt, dass ich verstand, wie sehr sie unter dieser Wurzellosigkeit litten.
GW Man sah es als einen gerechten Verlust an, dass Deutschland nach diesem Krieg diese Gebiete verloren hatte.
CW Ich habe diese Trauer in mir und das Heimweh nach Landsberg immer unterdrückt, weil das nicht sein durfte. Weil die Deutschen Schuld trugen am Krieg und dafür büßen mussten. Dass es nun gerade uns traf, war Pech. Eines Tages erwachte ich mit 15 in einer völlig neuen Umgebung, in einem mecklenburgischen Bauernhaus, die Russen hatten uns ausgeraubt, und ich trug nur noch einen Schlafanzug am Leib. Den anderen Flüchtlingen ging es genauso. Es gab viele, die nichts hatten. Das war ein ganz anderes Aufwachsen als heute.
GW Ich war, wie gesagt, in die Partei eingetreten, um meinem Vater eins auszuwischen, der zuvor in der NSDAP gewesen war. Daher rührte später auch die Zuneigung zu Menschen wie den Fürnbergs. Das waren die Art Eltern, die wir uns wünschten – die Antifaschisten.
CW Im Grunde waren sie Elternersatz oder Wahleltern.
JS Als 1979 mein Bruder Benni geboren wurde, machten sich Annette und Honza sehr viele Gedanken über ihren Erziehungsstil. Sie lasen Bücher über das Internat Summerhill 114 in Großbritannien, über antiautoritäre Erziehung. Ab und zu warf auch ich einen Blick in sie hinein. Von der Summerhill-Schule war ich begeistert. Eine Schule, in die die Schüler freiwillig gingen und in der sie selbst bestimmten, was sie lernen wollten, das klang für mich in der DDR absolut utopisch, aber sehr verführerisch.
CW Erst da beschäftigten auch wir uns damit.
GW Über Erziehungsfragen diskutierten wir kaum. Die Bücher des sowjetischen Pädagogen Makarenko 115 hatten wir gelesen, aber die betrafen uns nicht.
CW Einmal, 1950 , machte ich ein Praktikum in einem Erziehungsheim für Kinder, die gescheitert oder gestrandet waren, manche hatten auch Straftaten begangen. Sie waren richtig verwahrlost. Der Heimleiter wandte üble Erziehungsmethoden an, stellte einzelne Kinder vor der ganzen Mannschaft bloß. Gegen diese Erziehungsmethoden rebellierte ich. Ich weiß nicht, woher, aber ich wusste, dass man auf diese Art und Weise nicht erziehen darf. Außerdem war ich als Nichtverwahrloste vor den Kopf geschlagen, wie sich die 15 -, 16 -jährigen Mädchen dort in den Ecken des Kellers mit gleichaltrigen Jungs herumdrückten. Das fand ich degoutant. In dem Heim gab es auch eine Schule, in der die Schüler Diktate schrieben, in denen nicht ein einziges Wort richtig war.
JS In den DDR -Schulen verhielten sich die Lehrer zum Teil auch furchtbar autoritär, spielten ihre Macht aus.
CW Wenn Annette und Tinka in der Schule Konflikte hatten, unterstützten wir sie immer. Wir saßen in diesen Elternbeiräten. Das war oft ätzend.
Mein Großvater verlässt das Zimmer und verschwindet in der Küche, er bereitet das Abendessen zu. Meine Großmutter bleibt sitzen, leise singt sie: »Und wer entflieht, ist schlecht«. »Es leben die Soldaten«, ein altes Volkslied.
JS Das Frauenbild in der DDR war, dass Frauen arbeiten und Kinder haben. Das galt als absolut selbstverständlich. Heute ist das anders. Ich merke es daran, wenn ich Freunde aus dem Westen frage, was ihre Mütter arbeiten, die Antwort lautet ganz oft: Hausfrau. Das kenne ich aus meiner Kindheit nicht, und wenn, war das eher ein Schimpfwort.
CW Das stimmt. Hausfrau klang ein bisschen piefig, nach jemandem, der seine Anlagen nicht ausschöpfte.
JS Hattest du stets das Gefühl, dass du als Frau unterstützt und gefördert wurdest, dass man deine Meinung hören wollte?
CW Es war ein wenig zwiespältig. Einerseits gehörte ich zu einer Generation, in der es noch nicht viele ausgebildete Frauen gab, die leitende Stellungen übernehmen konnten. So dass ich
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