Sei lieb und büße - Thriller
mir erzählen?« Die Stimme ist leise. Bedrohlich leise, wie das ferne Grollen des Donners, der seinen Auftritt unerbittlich ankündigt. Nicht jetzt. Nicht im Flur. Nicht bevor sie das erste Mal mit ihren Freundinnen weggehen will.
»Die einen null Punkte habe ich erst heute bekommen.«
»Ist das etwa eine Entschuldigung?« Die Lautstärke schwillt an. »Und danach triffst du dich mit Laureen? Was ist das überhaupt für ein alberner Name? Wo ist dein Unrechtsbewusstsein?«
»Meins?« Sina lacht hart. »Mein Unrechtsbewusstsein? Hast du dich mal gefragt, woher solche Noten kommen? Dass sie vielleicht etwas damit zu tun haben, weil deinetwegen die Leute über mich lachen?«
Mutters Hand klatscht auf ihre Wange. »Das ist eine infame Lüge! Schäm dich!«
Sinas Wange brennt. »Papa!« Warum hilft er ihr nicht?
Ihre Mutter steht nun so dicht vor ihr, dass sie ihren Pfefferminzatem riechen kann. »Er ist nicht da, der feine Herr Papa.« Erneut ist ihre Stimme so leise, dass Sina sie kaum verstehen kann. »Er wurde aufgehalten. Von einem Kunden. Als ob wir nicht wüssten, wer dieser Kunde ist …«
Was sagt ihre Mutter da? Dass ihr Vater nicht nach Hause kommt? Dass er sie betrügt? Sinas Brust zieht sich zusammen. Nein. Nie. Das würde er nicht tun. Er weiß, wie sehr sie ihn brauchen.
»Er ist sicher schon auf dem Weg. Beruhige dich.«
»Beruhigen?«, brüllt ihre Mutter.
Zu spät. Niemand kann sie jetzt beruhigen. Nicht mal ihr Vater.
»Ich muss mich nicht beruhigen, weil ich mich nicht aufrege. Ich gehe. Jawohl. Gehe. Wir alle gehen. Der soll sehen, was passiert, wenn man sich einen Dreck um seine Familie schert.«
»Ich gehe nirgendwohin. Ich warte hier auf Papa.«
Blitzartig packt ihre Mutter Sina am Ärmel und schleift sie in die Wohnung. »Du kommst mit!«
Neben dem Eingang stehen ein Koffer und zwei Taschen, dahinter kauert Ben, die Augen verweint, und bindet sich seine Schuhe. Als er Sina sieht, springt er auf und wirft sich in ihre Arme. Schluchzend drückt er sich an sie, bittet sie wortlos, mitzukommen.
»Wohin fahren wir?«
»Oma.« Ihre Mutter reißt den Koffer vom Boden hoch. »Jeder von euch nimmt eine Tasche.«
»Aber ich muss erst packen«, protestiert Sina.
»Wärst du pünktlich nach Hause gekommen … Jetzt fahren wir.«
»Mama hat deine Sachen gepackt«, flüstert Ben. »Sie will deine Lederjacke zurückgeben. Weil du so schlampig und undankbar bist.«
»Los jetzt!« Ungeduldig schiebt ihre Mutter sie aus der Wohnung. »Ihr könnt im Auto noch lange genug reden.«
Ben und Sina nehmen jeder eine Tasche und folgen ihrer Mutter in die Tiefgarage zum Auto. Sie muss Laureen Bescheid geben. Eine Ausrede erfinden. Etwas Schlimmes, etwas, was ihr Fernbleiben entschuldigt.
Kaum wählt sie Laureens Nummer, reißt ihre Mutter ihr das Handy aus den Fingern.
»Du wirst deinen Vater nicht anrufen und vorwarnen.« Ohne auf Sinas Protest einzugehen, entfernt sie den Akku und legt ihn auf die oberste Felge der im Eck gestapelten Winterreifen. Dann gibt sie Sina das Handy zurück. »Den Akku kannst du dir Sonntagabend abholen.«
»Mama!«
»Steig ein. Und wage nicht, mir zu widersprechen, sonst kannst du dein Handy ganz abschreiben.«
Ben zieht Sina an der Hand mit ins Auto. Sie steigt ein, aber in ihrer Brust hämmert die ohnmächtige Wut wie ein Presslufthammer und nimmt ihr den Atem. Sie will schreien, brüllen, um sich schlagen, sie will gegen den Sitz treten und an der Kopfstütze rütteln, und doch tut sie nichts davon. Sie konzentriert sich auf Bens warme Hand, auf sein stoßweises Atmen, nur einen Schritt von einem Asthmaanfall entfernt. Ihre Finger vollführen eine fließende Bewegung vom Bauch über den Brustkorb zur Nase und wieder zurück. Ben folgt der Bewegung mit seinem Atem. Ein durch die Nase, aus durch den Mund, ein, aus, ruhig und gleichmäßig, bis er schließlich ganz normal weiteratmet.
Sina lehnt sich zurück und lässt die Landschaft an sich vorüberziehen. Sie haben Kranbach verlassen, die Autobahn jedoch noch nicht erreicht. Die Felder erstrecken sich wie Farbquadrate entlang der Landstraße, ab und zu tuckert ein Traktor über die trockene Erde. Sina versucht, nicht an ihre Verabredung zu denken. Laureen und Bessy werden stinksauer sein. Garantiert. Mit aller Macht konzentriert sie sich auf den Gedanken, dass sie in zwei Stunden bei Oma sein werden. In Sicherheit.
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Das Schriftbild des Blattes gleicht dem wirren Muster ihrer Lieblingstasse. So viel Zeit, um
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