Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
wollen. Die Fahrt von und nach Berlin ist auch deshalb bei Journalisten so beliebt. Sie bekommen so viele Neuigkeiten und Intrigen mit, ohne sich für eine separate Eigenrecherche bewegen oder anstrengen zu müssen.
Nach Testläufen folge die flächendeckende Markteinführung mit zwei, drei Silent Cars pro ICE, bis es irgendwann zu bestimmten Stoßzeiten ganze Silent Trains geben würde. Der nötige Aufpreis wird von Ruhebedürftigen stillschweigend bezahlt. Verletzungen der Stille durch Ruhestörer, die per Handy unbedingt ihrer Gattin glauben mitteilen zu müssen, dass sie an Bahnsteig 7 einen Verkäufer von Obdachlosenzeitungen
gefaltet hätten, würden stillschweigend unter uns geregelt. Zusätzliches Personal ist nicht erforderlich. Immerhin wird bereits getestet, ob Ruhe wieder ankommt bei den Fahrgästen. So geschehen unlängst überraschend zwischen Hamburg und Stuttgart. An den Türen eines Waggons stand unübersehbar Ruhezone . Das Angebot wurde angenommen. Bald waren alle Plätze besetzt. Es folgte eine entspannend ruhige Fahrt durchs weite Land, und selig schnarchten die sonst vom Lärm Verfolgten.
Gegen Rücksichtslosigkeit könnte wohl besser rücksichtsloses Vorgehen helfen, und zwar bereits zu einem frühen Zeitpunkt, bevor aus der hemmungslosen Verblödung der Gesellschaft alltägliche Verrohung wächst. Der kategorische Imperativ hilft eher weniger. Den muss man erst einmal vergessen. Macht man sich aber nicht gemein mit gemeinen Rüpeln, falls man ihnen mit harter Kante begegnet, statt sie Kant zu lehren?
Macht man. In der Tat.
Deshalb ist diese Alternative, so befriedigend sie auch wäre, nicht erlaubt. Stattdessen müssen die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die jetzt schon per Gesetz geboten werden. Eine wehrhafte Demokratie hat nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht, ihre friedlichen Bürger davor zu schützen, von unfriedlichen Prolos angepöbelt und belästigt zu werden.
Der Staat darf Flagge zeigen, wann immer er es für nötig hält. Falls seine Repräsentanten im Falle eines Falles wie dem des Massakers von Winnenden Rücksicht nehmen auf wort- und vor allem schussgewaltige Lobbyisten, weil Schützenbünde und -vereine ein gewaltiges Potenzial an Wählern mobilisieren können, sobald ihnen der Gesetzgeber an die gelagerten scharfen Waffen gehen will – geschätzt in privaten Haushalten rund acht Millionen! -, nennt man das Feigheit
vor dem Feinde. Damit machen sie sich mitschuldig am nächsten Amoklauf. Sie sollten sich deshalb überlegen, was sie tun, und schnell entscheiden.
Sonst werden es ihnen viele heimzahlen und zurückschießen. Gewaltfrei selbstverständlich. Mit der Waffe eines Wählers.
Dem Kreuz.
KAPITEL VI
Das Versagen der Eliten
V ermutlich ist es eh zu spät. Wahrscheinlich lässt sich nichts mehr ändern.Vielleicht haben sich Politiker in einer ganz großen Koalition mit der Teilung der Nation abgefunden. Nur anlässlich eines staatlichen hohen Feiertags wie an dem der Deutschen Einheit oder dem des Mauerfalls wird von Nach-, Vor- und Querdenkern in patriotischen Brandreden an die Pflicht einer demokratischen Gesellschaft erinnert, sich nicht nur um die Fortbildung der Klugen zu kümmern. Sondern verdammt noch mal auch um die Grundbildung der Doofen, deren schon verblödete Eltern durchschnittlich pro Tag 207 Minuten vor dem Fernsehapparat sitzen und schweigen.
Danach applaudieren einheitlich die Repräsentanten von Staat und Gesellschaft in jährlich wechselnden deutschen Theatern, was für ihre draußen wartenden Chauffeure ein hörbares Zeichen dafür ist, demnächst mit den Limousinen vorzufahren.
Ist es nicht tatsächlich sinnlos, sich um die zu bemühen, die gefüttert mit TV-Fastfood aufgewachsen sind, nie geistige Nahrung bekommen haben, in deren Zuhause keine Bücher gelesen wurden außer denen von Bohlen, Barth, Bushido & Co. und Gespräche im Wesentlichen aus »Boah, Ey, super, geil«-Versatzstücken bestanden?
So kann man es sehen.
Was aber ziemlich dumm und arrogant wäre.
Denn nur eine Minderheit der Blöden ist bereits blöde auf die Welt gekommen. Bei manchen hätte sich in ihren frühen Jahren noch was durch gezielte Fortbildung richten lassen. Dafür ist es jetzt wohl zu spät. Mit diesen nicht mehr zu Rettenden muss man leben. Bei ihren heranwachsenden Nachkommen könnte jedoch vielleicht noch was zu machen sein. Investitionen in deren Zukunft sind Investitionen in die Zukunft der Nation. Die braucht keine
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