Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
lauschenden Edenbewohnern Geschichten von der Welt jenseits ihrer Dörfer erzählten. In denen spielten feuerspeiende Drachen und todesmutige Ritter und anhimmelnswerte Frauen und gnädige Zauberer und böse Geister die Hauptrollen. Mit den mit so unerhörten Handlungen Reisenden, die im Dunkeln gut munkelten, kein Tageslicht brauchten und keine Kerzen, weil es eh noch nichts Geschriebenes gab, das sie hätten
erkennen müssen und vorlesen können, die mit Mund-zu-Ohr-Beatmung das Überleben der kollektiven und subjektiven Erinnerungen ermöglichten, mit glaubwürdig vorgetragenen Lügen und Märchen und Legenden und Mythen also, hat einst die Literatur begonnen.
Ist zumindest so vorstellbar.
Irgendwann sind solche Geschichten – Gegrüßet seist du, Homer! – nicht nur von Generation zu Generation weitererzählt, sondern aufgeschrieben worden. Danach galt der Gruß Herrn Gutenberg, dem Vater aller Drucker. Es fielen nie Genies einfach vom Himmel, es schrieben tatsächlich alle Genies fort in der Tradition anderer und alle zusammen an einer unendlichen Geschichte.
Dass die Helden in dieser unendlichen Geschichte, die Bücher, bei einer Temperatur von 232 Grad zu verbrennen beginnen, wissen die Nachgeborenen seit der Lektüre von Ray Bradburys Vision von einer bücherlosen Welt, seinem Roman »Fahrenheit 451« – die Herrschenden wollen alle Bücher in ihrem Land verbrennen, keines darf überleben, das freie Wort muss sterben. Sie wissen, warum sie das tun, weil jedes Buch einem geladenen Gewehr gleicht, das jederzeit gegen sie gerichtet werden kann. Sie werden aber nicht gewinnen, denn versteckt im Untergrund leben Menschen, die alle Bücher auswendig lernen, um die Wörter und Sätze und Gedanken und Abenteuer im Kopf zu lagern, sie irgendwann wie einst die Geschichtenerzähler weitergeben zu können. Auch die realen Staatsterroristen, die Nazis, verbrannten vor den Menschen die Bücher.
Was die durch ihre Bücher unsterblich bleibende Susan Sontag tragbare kleine Gedanken nennt, die ins Reisegepäck passen, wurde von Diktaturen zensiert, verboten, vernichtet – und am liebsten alle, die sie erschaffen hatten, gleich mit. Entweder brannten sie auf den Scheiterhaufen einer gottesfürchtigen
fürchterlichen Religion, die als Mutter Kirche ihre Kinder vor allzu freien Gedanken zu schützen vorgab, oder sie wurden in Konzentrationslagern und Gulags zu Tode gequält.Vor Büchern mussten und müssen noch alle Angst haben, die Angst verbreiten, Bücher sind ein unberechenbares feindliches Heer mit Millionen Wörtern als Soldaten.
Es gibt viele Bücher, die vergessen wurden und die das nicht verdienen. Doch kein Buch, das es verdient, ist je vergessen worden. Es wurden und werden zu viele sprachlose Bücher gedruckt, nach deren schon flüchtiger Lektüre man all die Bäume um Vergebung bitten möchte, die für den Schund ihr Leben lassen mussten. Es gibt aber Bücher, die werden leidenschaftlich nachts verschlungen, weil sie nur im Rausch begreifbar sind und nach deren letztem Satz sich der von ihnen verführte Leser so verlassen vorkommt wie nach dem Ende einer großen Liebe. Trost gibt es: Wer ein gutes Buch so sinnlich begriffen hat, begreift zukünftig sich selbst ein bisschen mehr.
Bücher sind Zeugen einer Zeit. Bücher ziehen mit in die Schlachten gegen die schrecklichen Vereinfacher der heutigen Zeit. Die gibt es nicht nur in der Gesellschaft außerhalb der Bücherwelt, sondern im eigenen Zunfthaus. Mit Büchern – sogar mit E-Books! – kann man Musik machen, indem man sie auf Hohlköpfe schlägt und dann auf den Klang achtet, und, wenn es dumpf klingt, die richtige Entscheidung treffen – es muss sich um Hohlköpfe handeln.
Mit Büchern kann die Welt, an die sich die meisten Menschen am liebsten erinnern, die unbeschwerte Welt ihrer Kindheit, an jedem Tag des Erwachsenenlebens Auferstehung feiern, bis zum letzten Moment, bis der Tod zu den dann von keiner Zeitvorgabe mehr beschränkten Lesungen im Club der toten Dichter bittet.
Wer ohne Bücher lebt, wird nie erfahren, dass es im Leben mehr als alles gibt.Wer wiederum manche Bücher nie liest, wird nichts im Leben versäumen. Gemeint sind die gedruckten Schreibversuche von Dilettanten, die nicht nur dumm sind, sondern unverschämt dreist, weil sie glauben, zu schreiben sei keine große Kunst, sei jedem gegeben, auch ihnen, sei ein Handwerk wie zu dübeln, zu bohren, zu schrauben.
Dass verdiente Staatsmänner im Ruhestand noch einmal ein Zubrot
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