Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
wappnen. Lyonesse stellte ein Heer auf, wenn auch nur zur Verteidigung. Carmanduas Volk hatte begriffen, was manch anderen Völkern noch heute nicht beizubringen ist: Krieg dient nur jenen, die Befehle erteilen, nicht der brennenden Erde und schon gar nicht den Menschen, die ihn führen.
Mit dem Eintreffen der Angelsachsen begann in England die Zeit der Ritter. Burgen und Schlösser entstanden. Schöne Kleider kamen in Mode und Minnesänger. Auf Dorffesten und in den Schlossgärten sangen sie an lauen Sommerabenden zum Tanz der Glühwürmchen von Sehnsucht und Liebe, vom romantischen Werben um ein edles Fräulein. Sie brachten den raubeinigen Rittern näher, was Frauen wünschten.
Rosen waren gefragt wie nie zuvor. Man pflanzte sie an, überreichte sie den Damen, trug sie im Hochzeitskranz. Allerdings mussten sie erst herbeigeschafft werden – im England jener Tage gab es noch keine Parks und Lustgärten. Die fanden sich einzig in Lyonesse. Carmanduas Ehemann, der Bretone Wavilian, hatte mit seinen Züchtungen den Grundstock gelegt. Inzwischen war aus den bescheidenen Anfängen mit halbwilden, klein blühenden Pflanzen ein Imperium geworden. Wer nach Lyonesse kam, den berauschte die Menge leuchtender Farben und nie gekannter Düfte. Es gab über hundert Dörfer und Siedlungen im Land, und an keinem dieser Orte fehlten die Rosen.
Alle konnte man erwerben bis auf eine. Die blutrote
Coeur de Lionesse
, Wavilians Hochzeitsgeschenk für seine Prinzessin, war das Wahrzeichen des Landes und damit unverkäuflich. Nur ein einziges Exemplar dieser prächtigen Rose stand in fremder Erde, und zwar vor dem Baumschloss Königin Gwynbaens. Carmandua hatte sie ihr geschenkt, als Dank für ihre Rettung. Schließlich waren es Elfen der Sidhe Crain gewesen, die sie vor einem grausamen Tod bewahrt hatten. Ein Dank von Herrscher zu Herrscher, und die Weiße Königin nahm das Geschenk an.
Außer den Rosen gewannen auch Tugenden mehr und mehr an Bedeutung. Die Ritter in England sahen sich als Vorbild und Beispiel für andere; sie konkurrierten nicht nur auf dem Turnierplatz miteinander, sondern ebenso im Streben nach einer edlen Geisteshaltung.
Als Schloss Camelot erbaut wurde und König Artus die Besten des Landes an seinen runden Tisch bestellte, war unter ihnen ein junger Ritter aus Lyonesse: Tristan, Sohn des amtierenden Königs Cunomorus. Er war ein gut aussehender blonder Jüngling, ohne Fehl und Tadel, von edler Gesinnung und mit einem Lächeln ausgestattet, das die Damen dahinschmelzen ließ. Tristan war der ganze Stolz seines Vaters, der künftige König von Lyonesse und ein Edler der Tafelrunde. Es verstand sich fast von selbst, dass die Wahl auf ihn fiel, als Marke von Cornwall Artus um die Entsendung eines treuen, zuverlässigen Ritters bat.
König Marke war Tristans Onkel und wandelte auf Freiersfüßen: Der König von Irland hatte ihm seine Tochter zugesprochen. Tristan sollte sie in Irland abholen und ihr ein sicheres Geleit nach Cornwall geben. Isolde, so hieß die Königstochter, war erheblich jünger als ihr künftiger Ehemann. Wie es damals üblich war, hatte man sie aus der Ferne verlobt; Braut und Bräutigam kannten sich nicht. Es stand zu befürchten, dass eine schöne junge Frau nicht den größten Gefallen an einem alten, bärtigen Mann aus Cornwall finden würde. Deshalb und um die Beziehungen zwischen England und Irland nicht unnötig zu belasten, gab der irische König seiner Tochter einen Trank mit auf den Weg. Sie solle ihn mit König Marke trinken, lautete die Anweisung, um den Bund der Ehe zu festigen.
Isolde wusste nicht, dass der Trank aus der Heimstatt irischer Elfen stammte. Es war ein hochkonzentriertes, magisches Liebesgebräu, das die Sinne verwirrte.
Tristan und Isolde waren verlässliche junge Menschen. Gehorsam und so unschuldig, wie man sein konnte. Sie fühlten sich zueinander hingezogen, doch es wäre nichts Unrechtes geschehen, hätten sie nicht beim Plaudern während einer Rast Durst verspürt und ahnungslos nach dem magischen Trank gegriffen.
Er wirkte, wie er es sollte, nur die Kombination der Personen war falsch. Tristan und die Königstochter verliebten sich unsterblich ineinander. Da half kein Sträuben, kein Beten – sie mussten sich vereinen, und das taten sie auch. Wieder und wieder. Bis sie Cornwall erreichten, war kein Trank mehr nötig. Es genügte ein Blick in die Augen des jeweils anderen, um die beiden vor glühendem Verlangen vergehen zu lassen.
Wären sie nur
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