Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
Willows nachgedacht.
»Überleg doch mal: Seit hundertvierundvierzig Jahren steht die Zeit in diesem Dorf still. Niemand altert, niemand stirbt – es sei denn, er verspätet sich beim Heimkommen. Daran kann man sich gewöhnen! Und ich wette, das haben die Dorfbewohner längst getan. Sie werden nicht zulassen, dass du ihnen das Kind nimmst und sie damit alle auf den Friedhof schickst, der schon so lange auf sie wartet.«
»Moment mal.« Alebin dämmerte eine fürchterliche Erkenntnis. Er wurde richtig blass, als sie klare Formen annahm. »Soll das heißen … die Leute da …« Er konnte es kaum aussprechen. »Eleanor Braxton ist hundertvierundvierzig Jahre alt? Plus die Jahrzehnte, die sie ohnehin auf dem Buckel hat? Äh!«
Er presste seine Hand auf den Magen und krümmte sich bei dem Gedanken, dass er mit einer uralten Frau geschlafen hatte. Und Millicent war genauso uralt … »Ih! Das ist ja widerlich!«
So schnell, wie es kam, ging es auch wieder vorbei. Alebin richtete sich auf. »Wie kann ich dich erreichen, falls ich dich noch mal brauche?«, fragte er Rocky, der schon äußerst interessiert auf eine Erklärung hoffte.
»Klopfe auf Stein, und ich erschein!«, sagte er lächelnd.
»Ach, übrigens«, rief er Alebin hinterher, der wortlos davonging. »Falls du dich wundern solltest, warum die Bestie nie das Dorf betritt: Ich an deiner Stelle würde die Leute mal fragen, wo ihre Kirche abgeblieben ist!« Rocky sah ein bisschen traurig aus, nachdem sein rothaariger Freund verschwunden war. Er hätte gern mehr über ihn erfahren. Aber was nicht war, konnte ja noch werden – und die Informationen, die er gerade bekommen hatte, reichten zumindest für eine Kurzmeldung. Der Steinling machte sich gleich ans Werk.
So ging die Nachricht über sämtliche Langstreckenmeldestationen in Cornwall bis hinunter nach Lyonesse, dass ein Elfenspion namens Avandular Ponslefog im Bodmin Moor versuchen wollte, einen uralten Fluch zu brechen.
Niemand dachte sich etwas dabei.
11 Hallowe’en
Rötliches Leuchten erwartete Alebin im unterirdischen Eingangsbereich der alten Zinnmine, als er aus dem Stollen trat. Der Elf dachte sich nichts dabei, hatte er doch die ganze Zeit auf rote Wände geblickt. Auch während er die Treppe hinaufging, die mit ihren Förderbändern unmittelbar ins Freie führte, fiel es ihm nicht auf. Alebin war mit seinen Gedanken bei einer ganz anderen Problematik als der Farbe des Tageslichts: Er musste tatsächlich noch einmal nach Whispering Willows zurück – nach
Mummyville
, wie er das Dorf wütend nannte, seit er wusste, dass dort lebende Mumien hausten.
Und eine von denen hat mich in ihr Bett gezerrt!
, dachte er angewidert. Es half nichts, dass die Initiative allein von ihr ausgegangen war. Tatsache blieb, dass eine fast zweihundert Jahre alte Frau an ihm herumgefummelt hatte.
Das zahle ich ihr heim! Eleanor Braxton wird mir dafür grässlich büßen!
Nachdem er die Zinnmine verlassen hatte, blieb er einen Moment stehen. Es war nicht gerade warm draußen, aber doch erheblich angenehmer als in den eisigen Stollen. Alebin schloss die Augen, hob sein Gesicht zum Himmel, der Sonne entgegen. Und er stutzte, als er sie nicht fand. Verwundert blickte er auf, mitten hinein in diese Helligkeit, die ihm eben noch bedeutungslos erschien und plötzlich ein einziges großes Fanal des Schreckens war.
Abendrot.
»Verflucht!«, wisperte Alebin ungläubig. Schön, er hatte lange mit Rocky zusammengesessen. War sogar noch einmal zurückgekehrt, als der Steinling die Kirche von Whispering Willows erwähnt hatte. Aber das hatte doch nicht bis zum Abend gedauert! Es konnte unmöglich schon dämmern! Doch genauso war es – der Herbst ging zu Ende, und die Tage wurden immer kürzer.
Alebin machte, dass er fortkam. Anfangs schritt er zügig aus, den Weg zurück bis zur Abzweigung. Sobald er sie erreichte, begann er zu laufen. Noch flammte der Sonnenuntergang in seiner ganzen Pracht, ließ den Westen golden aufleuchten und färbte die Unterseite vorbeiziehender Wolken rot. Doch das würde nicht lange anhalten. Bald schon würden die Farben an Kraft verlieren, sich auflösen und Platz machen für das Heer der Schatten. Dann begann die Blaue Stunde. Die Zeit der Magie, der Jäger und derer, die im Verborgenen hausten. Wie die Bestie.
Alebin rannte den Weg nach Whispering Willows entlang. Keuchend. Immer schneller, verzweifelter. Nach wie vor hatte er keine Angst vor Geistern; er glaubte nicht an Hallowe’en oder an
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