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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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latenten Anlagen an den Mann. Raufbolde können sich hier nach Belieben zerstückeln. Spieler können Unsummen einstreichen oder verlieren: die Illusion tut alles. Böcke können sich stimulieren, Literaten entdecken neue Formeln, alte Glossen in mundgerechter Verbrämung, denn nichts ist wahrhaft neu. – Ist kein Platz mehr, so kommt eine Schicht in die ›Große Retorte‹; der Geist wird analysiert und frisch gebraucht. Zwischendurch – und das ist eine schlimme Sache! – platzt wohl der Zuber, wenn einer von den ganz Großen, Spröden hineingerät; so mußte ich es bei der Durchsiebung Napoleons beim Versuch belassen. Das kommt von den konservierenden Ewigkeitspartikeln, die jedes Genie enthält; das Element hat sich bereits vorwitzig aus seinen Verbindungen losgeschält und zankt und explodiert, wenn man es zwingen will. Daher muß ich solche Leute nach einer sinngemäßen Drangsalierung hier wohlpräpariert an den Chef abgeben, der eine Art Raritätenasyl für sie besitzt. – Alle, auch der bewußte Napoleon, kommen schließlich da an; Hauptsache ist, daß sie die gute Menschheit irgendwie einmal gründlich ausgelüftet haben. Der Chef nimmt hier Partei und huldigt einem schier kindlichen Pragmatismus.«
    »Momentan befindet sich der Korse noch hier?« fragte Boggi interessiert.
    »Ja, er ist leider noch da und nimmt mir viel Platz weg. Da sehen Sie ihn . . .«
    In der Tat sah Boggi ein Schemen: vor der Brust gekreuzte Arme und ein grollendes Kinn unter einem Dreispitz. Die Erscheinung pflanzte sich nach jeweilig kurzen, exakten Schritten auf den belebtesten Stellen auf.
    »Sie haben alle nur die Pose gerettet«, lachte der Marquis. »Sie sind alle nur Bilder geblieben, und das oft recht verblaßte. Sie existieren hier eine Zeitlang weiter, so wie sie im Gedächtnis ihrer Mitmenschen leben: als ihr Charakteristikum . Von manchen sind nur Wörter übriggeblieben, große Wörter wie Tubenstöße und kleine, belanglose Sentenzen, pikante Variationen über langweilige Motive. – Sehen Sie den Salongreis dort! Er tut nichts, als seine zerknitterten Augenlider überlegen zu senken und Ihnen zu erzählen, daß er seine Meinungen nur auf Pantomimen beschränke; dabei übersieht er, daß diese Plattheit schon eine Meinung darstellt. Sehen Sie den Fabrikanten dort, der seinen Astralbauch wie einen Lampion umherträgt; dieser Mann behauptet, es gäbe teueres und billiges Geld; das teuere sei für die Idioten auf dem Drehstuhl, das billige für ihn; denn er habe die Dirigentengeste vom Klubsessel aus, und seine Transaktionen seien wie Petri Fischzüge! Sehen Sie den Tenor dort, den ich mir gelangt habe, weil seine Stimme ein reiner Geschäftsartikel für ihn ist; von diesem sehen Sie zumeist nur einen feisten Hals mit einem rollenden Kehlkopf und hören das hohe C – oft genug verdammt falsch, wie gerade eben, so daß man's ihm mit einem Korkzieher herausholen möchte. Spähen Sie schärfer, so sehen Sie noch den Umriß weibisch durchgedrückter Grübchenknie und gestöckelte Siegfriedsandalen. – Und dort, der literarische Klub, der wie ein giftgeschwollener Rattenkönig in jener Ecke wirkt! – Lehrreich ist das Jüdchen, das so regsamen Vorsitz führt und um jede Größe mit seinem Laternchen schnüffelt. Deshalb ist das Spürorgan deutlich ausgeprägt und von dem Rußwölkchen geschwärzt, das aus dem eigenen Laternchen stammt – so erklären Sie sich wohl dies Panoptikum: Der Mensch vergeht, der Typus besteht!«
    Der Marquis war angeregt und wußte noch mancherlei Beispiele für seine Behauptung zu erbringen. Und als Lohn für Boggis entgegenkommende Gelehrigkeit bot er diesem geheime Unterhaltungen: er zeigte ihm die Hölle durch die Brillen aller Nationen. Er massierte sein Gehirn und fuhr wie ein verblüffend geschickter Ziseleur in geheime, nur ihm bekannte Windungen, wobei elmsfeuerartige Büschelentladungen, violetten, zierlichen Moosbäumchen vergleichbar, von seinen Fingerspitzen ausstrahlten. Seine Hände glichen einem Webstuhl, so haarfein konnte er die Nerven haspeln. Er pustete die Zellen auseinander, er goß scharfe Essenzen hinzu; er hantierte mit dem Hirn wie ein Koch mit einer kunstvollen Pastete. Und in der gärenden Soße, in der Neubildung der Schichten, entstand eine Art organischen Wiederauflebens, eine fiebernde Keimung und Spaltung, durch welche bald dieser, bald jener Sinn unnatürlich gereizt wurde und Traumbilder, kaleidoskopähnlich, von grauenhafter Farbenklarheit, erzeugte.

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