Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927
zum Chef, eine empfehlende Karte, wenn Sie wollen. Mir gehört das Sterile, das Staubfreie, die liebe, beschauliche Verneinung; mir gehört das Begriffliche, junger Mann, der ganze selbstgezimmerte Kram, die Tribüne der Kritik und der bewußten Genüsse!«
Boggi kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Da wäre ich ja ganz am Platze!« meinte er zu sich. »Ein netter Mann, dieser Marquis!«
»Kurzum,« schloß dieser seine Betrachtung, »mir gehören alle Eigenhorizontler, die sich wohl fühlen. Wenn der Chef seinen ›Funken‹ in einige Köpfe wirft, so daß sie bei jedem Rhythmus, jedem Kuhfuß, der sich im Dreck spiegelt, in ihr ›Heilig, heilig!‹ ausbrechen, so machen sich meine Kandidaten ihre Theorie zurecht, ohne Verzückung, ohne fanatisches Applausgeschrei. Alle Praxis riecht nach Schweiß und ist demnach unappetitlich. Doch der Chef braucht diese Kohorte von Priestern der Praxis, von Impressionisten und Naivlingen, um für die eigenen unzweckmäßigen Einrichtungen Reklame zu machen.«
»Sie sprechen mir aus der Seele, lieber Marquis!« fiel Boggi ergriffen ein. »Ich bin überzeugt, mein Leben in Ihrem Sinn geführt zu haben.«
»Als alter Physiognomiker«, meckerte der Spitzbart, »las ich's Ihnen vom Gesicht ab. Sie sind zu alt für Ihr Alter; Sie sind brauchbar. Manchmal –« fuhr er träumerisch fort, »muß man wohl zugestehen, daß einige originelle Ideen uns entgangen wären, wenn wir sie nicht hübsch realisiert vorgefunden hätten. Deshalb brauchen wir die Produktiven, schon um Stoff für unsere Moquerien zu haben!« Er gab Boggi einen schelmischen Stoß mit dem spitzen Ellenbogen.
Da belebte sich die Straße mit einigen hellschimmernden kleinen Gestalten, die im Gänsemarsch des Weges zogen und wie ein Taubenschwarm auseinanderflatterten, als die Hupe ertönte.
»Es macht mir ein Vergnügen, da hineinzuplatzen«, lachte der Marquis. »Es ist das ›Korps der Hoffnungsengel, E. V.‹; die Piepmatze sind vom Chef angestellt, um mir zum Schluß noch ein Drittel meiner Pensionäre zurückzuködern; sie attackieren die Tränendrüsen mit Singsang und dergleichen rührendem Gewäsch. – Na ja, des Menschen Wille ist sein Himmelreich!« Er nieste.
Die Gegend, die das Fahrzeug jetzt durchquerte, war kahl. Felsblöcke lagen auf einer baumlosen Ebene verstreut, und ein Wind wimmerte irgendwo in der Ferne. Die kleinen bläulichen Sonnen wurden größer; sie schienen langsam, in großen Pendelschwingungen, vom Platz zu rücken . . . Ein leichter, rötlicher Hauch war am Horizont sichtbar, und irgendwoher tönten dumpfe Wasserstürze.
»Ich lese Erstaunen von Ihren Zügen, Verehrter«, sprach der Marquis nach einer Weile und zog seine Uhr. »Ich will Ihnen die Gegend erklären. Sie befinden sich sechs Kilometer unter der Erde; ich habe mich hier etabliert und eine selbständige Filiale eröffnet, müssen Sie wissen. Denken Sie sich, daß wir unter der Schale einer Pomeranze leben: daß wir uns mit Mitteln, auf die euere geschätzten Ingenieure wohl so bald nicht verfallen werden, einen großen Maulwurfsbau gewühlt haben. Wir haben rumort und rasaunt, haben eine Ehrenkompagnie von Dunkelmännern, von muskulösen Witzbolden und erfinderischen Athleten besessen und zu einer Zeit, wo die erste Amöbe im ersten Regentropfen Scheinfüßchen von sich streckte, schon über komfortable Etablissements verfügt. Man ist ja etwas älter jetzt; nun freilich! – In meiner Entstehungszeit war ich ein hübscher Bursche, das können Sie glauben. Wie ein Sonnenstäubchen im Weltraum, keinem Magnetismus unterworfen, mit schillernden Flügeln . . . Ich war damals noch das unbehelligte ›Ding an sich‹, das sich seines Lebens freute; die Privatpilzzucht auf dem Weltendünger, Menschheit, war erst zum Teil aufgegangen; es waren noch rüde Kumpane mit großen Eckzähnen, die ohne Galanterie miteinander verfuhren. Als die ersten philosophischen Köpfe entstanden, brachen sie mit Begriffsbestimmungen wie eine Herde Büffel in meine friedliche Existenz hinein und erhoben mich zur Lustspielfigur und zum tragischen Dämon. In tausend Rollen wurde ich beschäftigt, um schließlich einen Messengerboy der Geschichte abzugeben, der allerhand unbequeme Leute an passende Adressen schickt.«
»Doch haben Sie nicht auch Befriedigung in Ihrem Beruf gefunden, Marquis?«
»Selbstverständlich. Ich bin den Leuten unentbehrlich; sie brauchen Ereiferungen über mein Treiben, geradeso wie die Erbauung beim Chef, für
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