Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927
einem der Säle. Da sah er sich gegenüber die blutlose Inkarnation des Gräßlichsten, was je erdacht war, ein Stück Rumpf mit verdrehten Gliedern und epileptisch pendelndem Kopf, dessen formlose Züge, von der Farbe des Erstickens, durch den Krampf eines Grinsens unablässig verzerrt erschienen. Dieses Wesen erzählte ihm zerrissene Geschichten, Abenteuer von seltenen und nie begangenen Pfaden der Sinne, Befriedigungen und Sehnsüchte, so unerhört und verworfen, daß selbst der gewiegte Boggi seine Neugier nicht unterdrücken konnte und sich an dem Phantom weidlich ergötzte.
Und doch, trotz alledem, konnte er einem Klang nicht wehren, den sein Ohr nebenbei erhascht; er war von einer seltsamen Schönheit: »harmonisch«, dachte er. Eigentlich war's nur eine simple Figur, eine Verschwisterung zweier Töne, die ihn erregte. Und je mehr das Phantom Grimassen schnitt – es war, als sei ein nicht enden wollender, gräßlicher Schrei in der Luft –, desto dringlicher tat sich die Figur hervor. »Den Reiz des Gegensatzes«, nannte er's. »Der Fall ist einfach und doch eigenartig. Zwei Silben, hintereinander gesprochen, schmerzhaft und angenehm. Wie heißt es doch? › Ich suche dich! ‹ Mit einer netten Pointe auf dem U.« Und er begann, sich von dem Harlekin irritiert zu fühlen. Dieser wechselte die Farbe wie ein Chamäleon; lange Stielaugen traten hervor, suchten wie Schneckenfühler, schleimig tastend, auf dem Tisch und sprangen plötzlich saugnapfartig an seine Stirn. Es waberte und lohte da drinnen; sein Schädel war erfüllt von zwei gläsern starrenden, fühllosen Pupillen, die seine Denkkraft schluckten, so daß er nichts mehr sah und fühlte als diese seelenlosen Augen, die über alles hinwegfunkelten, bis sie im Leeren und Abstrakten erblindeten. Da brannte der »dunkle Fleck« wiederum; da breitete er sich aus, wie in weißem Damast versickernd, errötend wie Herzblut, fruchtbar und lieblich; er blitzte wie ein kleiner, rotierender Sternenhimmel. Boggi fühlte zeitlos; bis seine irrende Seele wiederum den Pol fand, den Heimatsakkord der beiden Silben.
Er bäumte sich auf. »Wer bist du?!« schrie er den Harlekin an. Und dieser darauf: »Seltsam, mein Lieber, wie du mich verkennst! – Bist du nicht mein Väterchen? Bin ich nicht ein Stück von dir, ein Pilz, der auf deiner Mischung wächst?« – »Den Teufel!« schrie Boggi. »Das bist du nicht!« – »Der Glaube ist das Maßgebende«, vernahm er noch; und dann war die Luft vor ihm leer.
Er rannte hinaus. Er rannte, so deuchte ihn, jahrzehntelang auf der schnurgeraden Straße, bis er den Quell des Lautes fand. Sie war da, sie stand im Staub. Und er meinte sie zu berühren, körperlich zu fühlen. Er umschlang sie und sie beharrten beide in dieser Stellung. Und Boggi, das Brennen verstärkt in sich spürend, überließ sich einer kaum gekannten, schmerzlichen Süßigkeit; der Vereinigung mit etwas längst Ferngerücktem und unendlich Erstrebenswertem. Und was er träumte, war dies:
Eine schirmverhängte Lampe, die ein kahlwandiges Zimmer in eine trübe und traute Beleuchtung setzte, grenzte einen kleinen Bereich ab gegen den Brodem der Vorstadt vor den Fenstern. Auf dem schlecht federnden Sofa mit seinen gelben Antimakassars saß eine Blondine mit stillen Augen im weißen Gesicht, mitten in einem Dunst von Geschmacklosigkeit und kahler Not. Vor ihr stand der dampfende, verbeulte Teekessel, und neben ihr saß ein egoistischer junger Mann, ein süperber Gesellschafter, kein Naivling mehr, Gott bewahre. Sie unterhielten sich, und sie fütterte ihn sorgsam; er war gefügiger und nicht so dämonisch wie im Kreis seiner Freunde. Er ließ sich bemuttern und liebte den Lampenschein, trotz der abscheulichen Fabrikate, über die er zärtlich streifte. Nachdem er seinen Tee mit viel gutem Kingstonrum, zu dessen Beschaffung sie vierzig Pfennige ausgeworfen, versetzt hatte, wich sein Selbstgefühl und wuchs seine Weinerlichkeit. Er redete nicht mehr in Offenbarungen, sondern gleichsam volkstümlich; und sie begriff zwar nicht alles, aber doch immer die Hauptsache, auf die es bei diesen Weinerlichkeiten ankam. Und beide begriffen, daß es sehr gemütlich sei, seine kleine und reputierliche Welt für sich zu haben, im fünften Stockwerk einer Mietskaserne, zwischen Kindergeschrei und unausgelüfteten Familien.
Ihr Gesicht war ihm ganz nah, dies weiche, vom rohen Leben umkreischte und umpfiffene Gesicht, diese köstliche Blüte aus dem Schmutz der
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