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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Dabei beließ er dem Hirn das dominierende Kalkül, so daß Boggi mit beschaulicher Wollust alle Sensationen fanatischer Kleriker durchlebte, ohne das ironische Bewußtsein seines Zustandes einzubüßen. Hatte er der erschöpfenden Vorstellung genug, so modellierte der Marquis sein Hirn wieder in die alte Form zurück.
    »Dieser Augiasstall von anrüchigen Begriffen und Kitzelmethoden«, sprach er, »ist noch wirr und ungesichtet, weil jeder sein Eigendüftchen, sein Eigengefühlchen liebt und weiterpflegt. Schaffte man hier nach dem Schema ›Urmenschlichkeit‹ Ordnung, so träte ein Schwarz oder Weiß zutage, vor dessen gleichgültiger, in sich ruhender Berechtigung alles verstummen müßte. Es trifft sich glücklich, daß man den Wert des Lebens immer noch in seiner Zersplitterung sucht und das Gegebene in erklügelte Beleuchtungen setzt, um sich dann wieder mit Entdeckerenthusiasmus auf ebendies Gegebene zu stürzen. Die liebe Selbsttäuschung liefert mir die meisten Pensionäre.«
    Derlei emphatischen Abschweifungen gab sich der Marquis jedoch nur zuweilen hin; im allgemeinen trug er eine belustigte Schweigsamkeit zur Schau, was sich zu seiner reservierten und gesammelten Tracht – verschiedenfarbiger, meistens roter Frack – so übel nicht ausnahm. Von Zeit zu Zeit hielt er kleine Kongresse ab, wo ein literarischer Klub – der mit dem regsamen Jüdchen – neue Prägungen ausgab oder Meetings über die Annahme neuer sexueller Verirrungen oder Taktfragen gebildet wurden. Einmal wurden Embryonen, totgeborene Kinder mit knospenhaften Anlagen gezeigt. Der Marquis hob diese leuchtenden, großköpfigen Keimwesen, die mit einem drolligen Ausdruck verbissener, greisenhafter Grübelei kleine, runzlige Fäuste ballten, scheinbar aus einer Feuertaufe und schenkte ihnen eine kurze, schattenhafte Wiedergeburt, während der es ihnen vergönnt war, psychische Aufwallungen zu empfinden. Er beschenkte die prädestinierten Kinder mit dem Zynismus lebenslanger Erfahrung und erotischer Empfänglichkeit; er schuf eine Leibgarde von kleinen, schlauen Bastarden um sich, die sich gleich Fledermäusen, die man am Tag auf den Boden setzt, plump und ruckweise vom Platz bewegten. Ein ungetaufter Erdenbürger, dessen vererbter Biedersinn sich für solche Bestallung zu spröde erwies, wurde in das »Korps der Hoffnungsengel« gesteckt, eine Guttat, die dem Marquis eigentlich gegen den Geschäftsnerv ging.
    Reine Akkorde waren ihm körperlich zuwider, und so durfte der Gesang dieser Engelspatrouille nur von dem einfach leiernden Rhythmus des Niggerkanons sein, Quinten, die um eine Note wanderten und das Ohr gepeinigt zurückgelassen hätten, wenn die Art des Vortrags nicht seltsam eindringlich gewesen wäre. So heischte es die Höllensatzung.
Der dunkle Fleck
    Der Marquis sagte einmal zu Boggi: »Mein Freund, ich setze Vertrauen in Sie. Ich werde mich etwas droben amüsieren; Sie wissen ja, auf der vorletzten Haltestelle. Ich übertrage Ihnen für einige Zeit meine Funktionen. Vor allem sei es Ihnen angelegen, den dunklen Fleck in Ihrer Brust zu tilgen, ganz zu tilgen!« Dann ließ er sich von seinem Schüler an die Station bringen, und Boggi fuhr, das Gefährt nun selbst lenkend, mit der Würde eines stellvertretenden Vizepapstes geschmückt, fröhlich wieder zurück.
    Ihm machte das Geschäft viel Spaß. Er saß auf erhöhten Stühlen, in der Ofenhitze der spiegelnden Säle, allein in dem roten Flackerlicht einer unwirklichen Welt, wo Zerrbilder von Menschen lebten und Leidenschaften, irr und abrupt, durcheinanderschlangen. Er befehligte ein Heer von Geschöpfen, die kraft seiner unerschöpflich kombinierenden Phantasie entstanden wie optische Überrumpelungen. Es gelang ihm, seltsamste Vorstellungen kraft seines geweckten Witzes zu bannen; er tat Fernblicke wie in den Farbennebel von Haschischträumen und streckte fuchtelnde Arme über einem willigen Orchester nie gehörter Klänge aus. Er hielt Revuen ab; er warf sich in die Pose des schattenhaften Imperators, der als lästiger Gast spukte; er exerzierte Gespenster und übte selbsterdachte Quadrillen ein, Tänze von unsinnigem Takt, Stolpertänze, die hirnloser Flucht glichen, und Trippeltänze auf erhitztem Parkett. Er kümmerte sich um die Fabrik und die »Große Retorte«; er sammelte einen funkelnden Schatz neuer Schlagwörter. Er liierte sich mit Madame Lilith, einem etwas ältlichen, aber noch hinlänglich reichhaltigen Frauenzimmer in rotem Haarschmuck, der wie ein Flammenhelm

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