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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Gewöhnlichkeit. Auch diesmal nannte er's »den Reiz des Gegensatzes«, jedoch mit einer gewissen schwermütigen Betonung auf dem »Reiz«. Hier trat der Verstand zurück mit dem Hut in der Hand; es war eine Unterscheidung des Herzens. Die Erinnerung begann ihm arg zuzusetzen, je mehr die neue Phase der Verschmelzung vorschritt. Er erinnerte sich an ein offenes Fenster: eiskalter Luftzug hatte hineingegriffen und das Idyll hinweggefegt. Sie hatte den Sprung gewagt, als er sie sitzenließ, vom fünften Stockwerk in den Hof hinunter.
    Gesegnet sei der »Geist«. Er hatte dem erstaunten und angewiderten Boggi die Tatsache erleichtert und ihm handliche Kunstgriffe gewiesen, um Exzerpte und Aphorismen aus diesem Schulbeispiel von Naivität zu pflücken. Ja, und nun? – – – Sein Blick war verschleiert, und ein Herzpochen blieb zurück; es glich einer Mühle, die das Vergangene unzertrümmert, als handfeste Tatsache durch ihr ächzendes Räderwerk schleppte, das Vergangene, das nicht mit dem Strome schwimmen wollte und beharrlich und eigensinnig den Betrieb verstörte.
    Da, auf einmal, als er sich noch in diesem konfusen Traumzustand befand, fühlte er es als einen Messerschnitt in die umklammernden Arme, verursacht durch eine lederne, dürre, knochenspitze Hand. – Er hatte überhört, was sich begab. Die Hoffnungsengel, die in ihren silbernen Hemdchen einen frommen Kreis um das Liebespaar gebildet, waren zerstoben, und der schwarzspiegelnde Motorkasten war gekommen, dumpf und behutsam rauschend wie eine grollende Windsbraut. Ein Herr im Spitzbart, in Gesellschaftstoilette, war mit der flachen Hand an der Brust Boggis herabgefahren mit einer wütenden, abschließenden Geste, und die flache Hand rief zuckende Schmerzen hervor, wie ein Griff in offene Wunden. Boggi ermannte sich halb und stand Rede.
    »Ich bin etwas früher gekommen«, sagte der Marquis. »Ich fühlte als alter Neurastheniker, daß Sie hier Dummheiten machen, mein Vertrauen täuschen und ihre Vizewürde an Kindlichkeiten und anrüchige Menschlichkeiten verschleudern. Was haben Sie mit der Person zu schaffen?«
    Seltsam, Boggi bekam Angst. Er verschluckte sich und hustete. Dann erwiderte er fast bittend: »Verzeihung, Meister. Ich bin nicht so ganz perfekt. Ich werde mich ändern . . .«
    »Dazu ist es zu spät«, kam die klanglose Stimme zurück, und die Wut des Marquis schien zu wachsen. »Sie haben ganz gute Anlagen; es ist schade. Ausgebrannt müssen Sie werden, ganz ausgebrannt. Sie sind eine Blamage; ich habe viel an Sie gewandt. – Ich muß Sie hinauswerfen, verstehen Sie das?« schrie er schließlich. »Sie und das Frauenzimmer ! Und nicht bloß hinauswerfen muß ich Sie, ausmerzen muß ich Sie, in den Abgrund pusten, Sie widerliches Doppelwesen! Sie riechen zu stark nach der Erde, Sie abgefeimter Sektierer!!!« – Und er begann wieder, sich groß zu machen. Er wurde zur Wolke, spie Hagel und glühende Schlacken, der Motor, vor Vernichtungslust zitternd, nahm Anläufe und donnerte . . . Eine Welle von Verödung drohte aufzuschwellen, eine Welle, die alles bleichte und zerstampfte: so groß war die Wut des Marquis.
    In diesem Augenblick lächelte das Mädchen, erglänzte von Lächeln. Sie nahm Boggis Hand und sagte ruhig und schlicht: »Nein! – das wird nicht sein! – Ich werde ihn behalten, Marquis!« – und zugleich ging ein Schatten von Blut über ihr ganzes Gesicht, ein rötlicher Schimmer; und auf der weißen Stirn klaffte eine Wunde und goß funkelnde Tropfen, wie von Rubin, über das durchsichtige Gewebe ihres Hemdes. Sie zeigte ihre Entstellung durch einen gräßlichen Tod, blitzschnell und sieghaft, ihre zerschlagenen, zarten Glieder; sie bot ihre Hinfälligkeit trotzig zur Schau. Und als die kurze Verklärung vorüber war, als der Abglanz ihres Opfers, das größer war als alle Kämpfe und Siege, die der Verstand je ausfechten kann, verlöscht war, stand der Marquis wieder da, die spitze Nase gekraust, die Hände über dem gefältelten Vorhemd verbindlich gekreuzt, und verneigte sich nicht ohne Respekt.
    »Sie spielen Ihren Trumpf nicht ungeschickt aus, meine Dame«, sprach er heiser, doch voll süßer Betonung. »Es ist zwar nicht allzu stilvoll, mit dergleichen ins Feld zu rücken – doch ich gestehe gern, daß ich solchen Effekten nicht gewachsen bin.« – Und zu Boggi gewandt: »Scheiden Sie, mein Freund; Sie sind ein Zwittergeschöpf und verderben mir nur das Geschäft. Gehen Sie zum Chef . . . Alles in allem

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