Seidene Küsse
emotionale Talwanderungen zu überstehen, war immer eine besondere Herausforderung. Katja hoffte, nicht so lange allein zu bleiben, dass das dann noch eine Rolle spielen würde. Sie hatte keine Routine mehr im Alleinsein.
Jetzt aber wollte sie nicht stillsitzen und sich diesen Unsinn anhören. Sie musste sich betätigen. Wie gut, dass der Brunch diesmal bei ihr stattfand.
Sie stellte sich an den Herd und briet Speckstreifen in einer großen Pfanne aus. Eine kontemplative Beschäftigung. Man musste jeden einzelnen Streilen im Auge behallen, ständig wenden, darauf achten, dass sie knusprig, aber nicht zu hart wurden, weil sie sonst zerbrachen.
Die Kin der – Maxi mi lian war zwölf, seine Schwester An nabelle neun und Ruths Tochter mit sieben das Nesthäkchen -wurden immer wilder, tobten durch alle Zimmer. Hin und wieder war ein schmerzvolles Aufjaulen des Scotchterriers zu hören, wor auf automatisch Ruths la koni scher Aus ruf »Kin der, lasst den Hund in Ruhe!« folgte. Eine vergebliche Erziehungsmaßnahme, denn auf das nächste Hundej aul en konnte man sich verlassen. Eigentlich hätten sie die Eiersuche vor dem Essen absolvieren müssen, denn so würden sie keine ruhige Minute haben.
Na ja, das wäre auch bloß eine trügerische Ruhe. Zucker putscht die doch erst recht auf, dachte Katja. Dass sie nie abschalten konnte. Mediziner ist man eben immer, nicht erst, wenn man das Krankenhaus betritt.
Immer wieder trafen sich ihre Blicke. Katja vermochte nicht in Roberts Augen zu lesen. Undurchsichtig ist er geworden, dachte sie. Seit wann wohl? Als Kinder hatten sie sich ohne Worte verstanden. Das Zucken einer Braue, ein Tippen mit dem Zeigefinger hatte genügt.
Katja schnitt die Tomaten, zupfte frischen Oregano und Thymian, zerkleinerte ein paar Knoblauchzehen im Mörser und schlug eine ganze Steige Eier mit Milch und Salz für ihr mediterranes Spezialrührei auf, während ihre Gedanken zu Robert wan der ten.
Wie er sich verändert hatte! Er wirkte verl oren in ihrem Kreis. In ihrer Küche saß ein fremder Mann. Wie sollte sie mit ihm ins Gespräch kommen, ohne dass ihre Familie sich einmischte, ihr Worte in den Mund legte, falsch interpretierte und kluge Ratschläge gab?
Das Charakteristi sche an Katjas Fami lie: Alle leg ten zwar großen Wert darauf, oft zusammenzukommen und viel gemeinsam zu unternehmen, aber sie waren nicht in der Lage, auch nur eine Minute gemeinsam an einem Tisch zu sitzen. Dieser Brunch war Katjas Versuch, wenigstens einmal etwas herzustellen, das sie oft in Filmen – meist italienischen – gesehen und sich zeitlebens für ihre Familie gewünscht hatte: ein lebendig gewordenes Stillleben. Der riesige Tisch biegt sich mit Speisen, alle unterhalten sich miteinander über ein Thema. Ein kultivier tes Tischgespräch, an dem sich je der betei ligt. Echte Dia loge, nicht lauter Monologe durch ein ander. Ein fried li ches Miteinander, Lachen, Wohlwollen, Freude, Genuss, Verbundenheit. Bisher war es Katja nur gelungen, diese Atmosphäre mit ih ren Freun den oder ein zel nen Ver wandten zu er zeu gen, nie mit allen auf einmal.
Doch heute war sie zur Abwechstung mal die Hauptfigur. Gast geber, Re gis seur, Desi gner und außen ste hen der Betrachter gleichzeitig. Das war eine von Katjas besonderen Gaben: dass sie gleichzeitig am Geschehen teilhaben und wie ein Forscher, der eine wissenschaftliche Studie mit Probanden betreut, interessiert von außen draufschauen konnte.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Katja, als sie auf jeden Teller ein Häufchen Rührei aus der Pfanne füllte, dass Robert sie aufmerksam musterte.
Obligates Ostersonntags-Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste, ob es stürmte oder schneite: der gemeinsame Osterspaziergang im Tierpark. Bei so vielen Menschen dauerte es Stunden, bis alle gemeinsam aufbruchbereit waren. Oft hatte bis dahin das Wetter umgeschlagen, und das war dann einer dieser Momente, in denen Katja sich sicher war, dass sie auf der Säuglingsstation vertauscht worden war. Kam bestimmt häufiger vor, dass dieses kleine Plastikarmband mit dem Namen in der Hektik einfach einem anderen Baby umgelegt wurde. Katja konnte aus ihrem Arbeitsalltag in der Klink selbst ein paar haarsträubende Verwechslungsgeschichten zum Besten geben.
Vor allem ihre Schwester Ruth musste irgendeinen Verwandtschaftsgrad mit Kriechschnecken haben, denn sie brauchte für alles Ewigkeiten, und das trieb Katja immer wieder aufs Neue fast in den Wahnsinn. Täglich ging Ruth nur das
Weitere Kostenlose Bücher