Seidenfächer
aufgezogen. Wir lieben unsere Familien vielleicht, aber wir bleiben nicht lange bei ihnen. Wir werden in Dörfer verheiratet, die wir nicht kennen, in Familien, die wir nicht kennen, an Männer, die wir nicht kennen. Wir arbeiten unablässig, und wenn wir uns beklagen, verlieren wir auch noch das bisschen Achtung, das uns unsere Schwiegereltern entgegenbringen. Wir tragen Kinder aus; manchmal sterben sie, manchmal sterben wir. Wenn unsere Männer unser überdrüssig werden, nehmen sie sich Konkubinen. Wir haben alle Zeiten der Not erlebt – Ernten, die missraten, Winter, die zu kalt sind, Saatzeiten ohne Regen. Nichts davon ist außergewöhnlich, aber diese Frau beansprucht für ihre Klagen ganz besondere Aufmerksamkeit.«
Ich wandte mich Schneerose zu. Tränen brannten mir in den Augen, als ich meinen Gesang an sie richtete, und ich bereute meine Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. »Du und
ich, wir sollten ein Paar Mandarinenten sein. Ich war dir immer treu, aber du hast mich verschmäht, um dich Schwurschwestern zuzuwenden. Ein Mädchen schickt einen Fächer an ein einziges anderes Mädchen und schreibt nicht vielen Mädchen neue Fächer. Ein gutes Pferd hat nicht zwei Sattel; eine gute Frau ist ihrer laotong nicht untreu. Vielleicht ist deine Niedertracht der Grund, weshalb dein Mann, deine Schwiegermutter, deine Kinder und, ja, die betrogene Weggefährtin, die hier vor dir steht, dich nicht so lieben und ehren, wie sie es könnten. Du beschämst uns alle mit deinen mädchenhaften Launen. Käme mein Mann heute mit einer Konkubine nach Hause, müsste ich meinen Platz im Bett räumen, ich würde vernachlässigt, mir würden seine Aufmerksamkeiten nicht mehr zuteil. Doch ich müsste das hinnehmen – so wie alle Frauen. Aber … von … dir …«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, und die Tränen, die ich zurückgehalten hatte, liefen mir über die Wangen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich könnte nicht mehr. Ich löste mich von meinem eigenen Schmerz und versuchte, wieder auf etwas zu kommen, was alle Frauen in diesem Raum verstehen würden. »Dass uns unsere Männer irgendwann nicht mehr so zugetan sind, damit müssen wir rechnen – die Männer haben das Recht dazu, und wir sind nur Frauen -, aber das von einer anderen Frau hinnehmen zu müssen, die allein wegen ihres Geschlechts im Leben viel Grausames erlebt hat, ist unbarmherzig.«
Ich fuhr fort und erinnerte meine Nachbarinnen an meinen Status, an meinen Mann, der Salz ins Dorf gebracht hatte, und wie er dafür gesorgt hatte, dass alle Einwohner von Tongkou während der Rebellion in Sicherheit gebracht wurden.
»Die Schwelle meines Hauses ist sauber«, erklärte ich und wandte mich an Schneerose. »Aber wie steht es mit deiner?«
In diesem Moment kochte eine Wut in mir hoch, die bisher
kein Ventil gefunden hatte, und keine Frau in diesem Raum hielt mich zurück. Die Worte, die ich gebrauchte, kamen von einem so dunklen und bitteren Ort in mir, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre von einem Messer aufgeschlitzt worden. Ich wusste alles von Schneerose, und ich benutzte dieses Wissen gegen sie, indem ich einen Verhaltenskodex vorschob und meine Macht als Dame Lu ausspielte. Ich erniedrigte sie vor den anderen Frauen und offenbarte jede ihrer Schwächen. Ich hielt nichts zurück, weil ich alle Kontrolle verloren hatte. Plötzlich erinnerte ich mich an das strampelnde Bein meiner jüngeren Schwester und die lose herumfliegenden Bandagen. Bei jeder meiner Anschuldigungen hatte ich das Gefühl, als hätten sich meine Bandagen gelöst und ich könne endlich aussprechen, was ich wirklich dachte. Ich brauchte viele Jahre, um zu begreifen, dass meine Wahrnehmung damals völlig falsch war. Die Bandagen flogen nicht durch die Luft und meiner laotong um die Ohren. Stattdessen wickelten sie sich immer enger um mich und versuchten, die tief empfundene Liebe aus mir herauszuquetschen, nach der ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt hatte.
»Diese Frau, die einmal eure Nachbarin war, brachte eine Aussteuer mit in die Ehe, die aus der Aussteuer ihrer Mutter gemacht war. Als diese arme Frau damals auszog, um auf der Straße zu leben, hatte sie keine Decken oder Kleider, die sie warm hielten«, verkündete ich. »Diese Frau, die eure Nachbarin war, hält ihr Haus nicht sauber. Ihr Mann übt einen unreinen Beruf aus und schlachtet Schweine auf einer Plattform vor der Tür. Diese Frau, die eure Nachbarin war, hatte viele Talente, aber sie hat sie vergeudet und
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