Seidenfächer
gepachteten Grund. Baba und Onkel machten immer wieder drei Kotaus hintereinander. Mama legte sich auf den Grabhügel und bat um Vergebung. Wir verbrannten Papiergeld; für die Trauernden, die sich eingefunden hatten, gab es keine anderen Geschenke als Süßigkeiten.
Obwohl Großmutter kein Nushu lesen konnte, hatte sie dennoch die Dritter-Tag-Hochzeitsbücher, die sie vor langer Zeit zur Hochzeit bekommen hatte. Diese wurden mit ein paar anderen Schätzen, die ihre beiden Altersschwurschwestern zusammengesammelt hatten, an ihrem Grab verbrannt, damit die Worte sie ins Jenseits begleiten würden. Sie sangen gemeinsam: »Wir hoffen, du findest unsere anderen Schwurschwestern. Ihr drei werdet glücklich sein. Vergesst uns nicht. Wir sind noch durch Fasern verbunden, auch wenn die Lotoswurzel durchtrennt wurde. Unsere Beziehung ist stark und langlebig.« Über Dritte Schwester wurde nichts gesagt. Nicht einmal Älterer Bruder hatte eine Botschaft mitzugeben. Da sie selbst nichts geschrieben hatte, verfassten Tante, Ältere Schwester, Schöner Mond und ich Botschaften in Nushu, um Dritte Schwester unseren Vorfahren vorzustellen, dann verbrannten wir sie.
Obwohl wir erst am Anfang unserer dreijährigen Trauerzeit um Großmutter standen, ging das Leben weiter. Die schlimmste Zeit des Füßebindens hatte ich hinter mir. Meine Mutter musste mich nicht mehr so oft schlagen, und die Schmerzen von den Bandagen hatten nachgelassen. Das Beste, was Schöner Mond und ich jetzt tun konnten, war einfach dazusitzen und uns die Füße in ihre neue Form binden zu lassen. Frühmorgens übten wir beide – unter der Aufsicht von Älterer Schwester – neue Stiche. Am späteren Vormittag brachte mir Mama das
Spinnen von Baumwolle bei, und am frühen Nachmittag beschäftigten wir uns mit Weben. Schöner Mond und ihre Mutter machten es genauso, nur umgekehrt. Die Spätnachmittage waren dem Studium von Nushu gewidmet; Tante lehrte uns mit Geduld und viel Humor einfache Wörter.
Da sie nun das Füßebinden von Dritter Schwester nicht mehr überwachen musste, widmete sich Ältere Schwester, die mittlerweile elf war, wieder intensiver dem Frauenhandwerk. Ehrenwerte Frau Gao, die örtliche Heiratsvermittlerin, kam nun regelmäßig, um die förmliche Verlobung festzumachen, die erste der fünf Stufen der Verheiratung von Älterem Bruder und Älterer Schwester. In Frau Gaos Geburtsdorf Gaojia gab es ein Mädchen aus einer Familie, die unserer sehr ähnlich war. Dieses Mädchen sollte Älteren Bruder heiraten. Für diese potenzielle Schwiegertochter war das eine gute Sache, weil Ehrenwerte Frau Gao so viel in diesen beiden Dörfern zu tun hatte, dass man regelmäßig Nushu-Briefe hin- und herschicken konnte. Dazu kam, dass Tante aus Gaojia weggeheiratet hatte. Auch sie würde nun leichter mit ihrer Familie in Verbindung treten können. Sie freute sich so, dass tagelang alle in die große Höhle ihres Mundes mit den zackigen Zähnen hineinsehen konnten, weil sie so strahlte.
Ältere Schwester, die jeder, der sie kennen lernte, für still und hübsch erachtete, sollte in eine besser gestellte Familie in dem weit entfernt liegenden Dorf Getan einheiraten. Wir waren traurig, dass wir sie nicht mehr so oft sehen würden, wie uns lieb gewesen wäre, aber bis zur eigentlichen Heirat konnten wir noch sechs Jahre lang ihre Gesellschaft genießen, und danach blieben uns noch zwei oder drei Jahre, bevor sie uns endgültig verließ. Wie allgemein bekannt ist, folgen wir in unserem Landkreis dem Brauch des buluo fujia , das heißt, wir ziehen erst auf Dauer in das Haus unseres Ehemannes, wenn wir schwanger werden.
Ehrenwerte Frau Gao war völlig anders als Ehrenwerte Frau Wang. Am besten beschreibt man sie mit dem Wort derb. Während Frau Wang Seide trug, kleidete sich Frau Gao in selbst gesponnene Baumwolle. Während Frau Wangs Worte so glatt waren wie Gänsefett, klangen die Aussprüche von Frau Gao rau wie das Gekläff eines Dorfköters. Sie kam hinauf in das Frauengemach, setzte sich auf einen Hocker und verlangte, die Füße aller Mädchen im Haushalt der Familie Yi zu sehen. Ältere Schwester und Schöner Mond fügten sich natürlich. Obwohl mein Schicksal bereits in den Händen von Frau Wang lag, sagte Mama, ich sollte meine Füße ebenfalls vorzeigen. Welche Worte Ehrenwerte Frau Gao da wählte! »Der Spalt ist so tief wie die inneren Falten dieses Mädchens. Sie wird ihren Ehemann glücklich machen.« Oder: »Diese Ferse zieht sich nach unten wie
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