Seidenfächer
geizig. Das war furchtbar ungerecht! Würde sie jemals Ruhe finden?«
»Ganz allein, ganz allein«, sang Mama, »bereitet sie sich auf ihr Leben als Geist vor.«
Tante geleitete uns mit dem Finger von einem Schriftzeichen zum nächsten, und wir versuchten zu folgen, auch wenn wir die meisten Zeichen noch nicht kannten. »Der älteste Bruder sagt: ›Wir müssen sie nicht in einer Kiste beerdigen. Das geht auch so, wie sie ist.‹ Der zweite Bruder sagt: ›Wir könnten die alte
Kiste aus dem Schuppen nehmen.‹ Der dritte Bruder sagt: ›Hier ist alles Geld, was ich habe. Ich mache mich auf und kaufe einen Sarg.‹«
Als wir zum Ende kamen, änderte sich der Rhythmus des Liedes. Tante sang: »Eine Frau hatte einmal drei Brüder. So weit sind sie nun gekommen, aber was wird nun mit Schwester passieren? Älterer Bruder – er hat ein schäbiges Wesen, Zweiter Bruder – er hat ein kaltes Herz, aber in Drittem Bruder könnte die Liebe durchkommen.«
Die Schwurschwestern ließen Schöner Mond und mich die Erzählung beenden. »Älterer Bruder sagt: ›Vergraben wir sie hier am Weg der Wasserbüffel …‹« (Wo für alle Ewigkeit auf ihr herumgetrampelt würde.) »Zweiter Bruder sagt: ›Vergraben wir sie unter der Brücke …‹« (Wo sie weggespült werden würde.) »Aber Dritter Bruder – guten Herzens, ein guter Sohn in jeder Beziehung – sagt: ›Wir vergraben sie hinter dem Haus, damit sich alle an sie erinnern.‹ Am Ende fand Schwester, die ein unglückliches Leben geführt hatte, großes Glück im Jenseits.«
Ich liebte diese Geschichte. Es machte Spaß, sie mit Mama und den anderen zu singen, aber seit dem Tod meiner Großmutter und meiner Schwester verstand ich besser, was sie bedeutete. Die Geschichte zeigte mir, wie sehr der Wert eines Mädchens – oder einer Frau – von einem bestimmten Menschen abhing und wie leicht er sich ändern konnte. Außerdem gab sie praktische Anweisungen, wie man sich um einen geliebten Menschen nach dem Tod kümmert – wie man mit dem Körper umgehen soll, woraus die angemessene Totenkleidung besteht, wo jemand beerdigt werden soll. Meine Familie hatte ihr Bestes getan, diese Regeln zu befolgen, und ich wollte das auch tun, wenn ich einmal Ehefrau und Mutter war.
Nach dem Tag des Stierkampfs kehrte Ehrenwerte Frau Wang zurück. Mittlerweile hasste ich ihre Besuche, denn sie brachte
immer noch mehr Sorge in unseren Haushalt. Natürlich freuten sich alle über die Aussicht auf die gute Heirat von Älterer Schwester. Natürlich war jeder erfreut, dass auch Älterer Bruder heiraten würde und dass unser Haus seine erste Schwiegertochter bekommen würde. Aber wir hatten vor kurzem auch zwei Beerdigungen in unserer Familie gehabt. Einmal abgesehen von den damit verbundenen Gefühlen, brachten diese traurigen und frohen Ereignisse auch die Kosten für zwei Beerdigungen und zwei bevorstehende Hochzeiten mit sich. Auf mir lastete nun noch mehr Druck, gut zu heiraten. Es ging um unser Überleben.
Ehrenwerte Frau Wang kam herauf ins Frauengemach, warf einen höflichen Blick auf die Stickarbeit von Älterer Schwester und lobte sie dafür, dann setzte sie sich mit dem Rücken zum Gitterfenster auf einen Hocker. Sie schaute nicht in meine Richtung. Mama, die gerade erst anfing, ihre neue Rolle als höchstrangige Frau im Haushalt zu begreifen, winkte Tante, Tee zu bringen. Bis der Tee da war, redete Ehrenwerte Frau Wang über das Wetter, über Pläne für bevorstehende Tempelfeste, über eine Warenlieferung, die über den Fluss aus Guilin gekommen war. Als der Tee dann eingegossen war, kam Frau Wang auf das Geschäftliche zu sprechen.
»Verehrte Mutter«, begann sie, »wir haben bereits über einige der Möglichkeiten, die Eurer Tochter offen stehen, gesprochen. Eine Heirat in eine gute Familie im Dorf Tongkou scheint gesichert.« Sie beugte sich vor und vertraute ihr an: »Ich habe dort bereits Interesse geweckt. In wenigen Jahren schon werde ich Euch und Euren Mann wegen der förmlichen Verlobung besuchen.« Sie richtete sich wieder auf und räusperte sich. »Aber heute bin ich gekommen, um eine Verbindung anderer Art vorzuschlagen. Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, habe ich an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal hier war, in Lilie die Chance erkannt, eine laotong zu werden.« Ehrenwerte Frau Wang wartete
die Wirkung ihrer Worte ab, bevor sie fortfuhr. »Das Dorf Tongkou liegt für einen Mann einen Fußmarsch von fünfundvierzig Minuten entfernt. Die meisten Familien dort
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