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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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und war gebildeter. Doch da sie die rangniedrigste Frau in unserem Haushalt war, musste Tante aufpassen, was sie sagte, insbesondere, da meine Mutter nun die völlige Kontrolle über ihr Leben hatte.

    »Ein laotong -Bund ist so wichtig wie eine gute Heirat«, begann Tante zum Beispiel das Gespräch. Sie wiederholte viele Argumente der Heiratsvermittlerin, aber sie kam immer auf den einen Aspekt zurück, den sie für den wichtigsten hielt: »Ein laotong -Bund wird durch eine freiwillige Entscheidung geschlossen. Sie begründet eine emotionale Verbindung mit ewiger Treue. Eine Ehe wird nicht durch eine freie Wahl geschlossen und dient nur einem Ziel – Söhne zu bekommen …«
    Bei den Worten über die Söhne versuchte Mama immer, ihre Schwägerin zu trösten: »Du hast Schöner Mond. Sie ist ein braves Mädchen und macht alle glücklich …«
    »Und sie wird mich für immer verlassen, wenn sie wegheiratet. Deine beiden Söhne werden den Rest deines Lebens bei dir wohnen bleiben.«
    Jeden Tag gelangten die beiden bei dem gleichen traurigen Punkt an, und jeden Tag versuchte meine Mutter, das Gespräch auf praktischere Dinge zu lenken.
    »Wenn Lilie eine laotong wird, hat sie keine Schwurschwestern. Alle Frauen aus unserer Familie …«
    »…hatten welche«, wollte Mama den Satz beenden, aber Tante fuhr anders fort: »Können als ihre Schwurschwestern einspringen, wenn sie gebraucht werden. Wenn du meinst, wir brauchen mehr Mädchen, wenn vor Lilies Hochzeit die Zeit zum Sitzen und Singen im oberen Gemach gekommen ist, dann kannst du die unverheirateten Töchter unserer Nachbarn einladen und sie bitten, ihr Gesellschaft zu leisten.«
    »Diese Mädchen werden sie dann aber nicht gut kennen«, sagte Mama.
    »Aber ihre laotong wird es. Wenn diese beiden Mädchen erst einmal wegheiraten, dann kennen sie einander besser als du und ich unsere Ehemänner.«
    Wie immer hielt Tante an dieser Stelle inne.
    »Lilie hat die Chance, einen anderen Weg zu gehen als du
und ich«, fuhr sie kurz darauf fort. »Dieser laotong -Bund wird ihren Wert steigern und den Leuten in Tongkou zeigen, dass sie eine gute Heirat in ihr Dorf verdient. Und da sich an dem Bund zwischen zwei Weggefährtinnen mit der Heirat nichts ändert – er gilt für immer -, werden die Verbindungen zu Tongkou noch mehr gefestigt, und dein Ehemann wird – wie wir alle – noch zusätzlich geschützt. All das wird dazu beitragen, Lilies Position unter den Frauen im Haus ihres zukünftigen Mannes zu sichern. Sie wird keine Frau sein, die durch ein hässliches Gesicht oder hässliche Füße verunstaltet ist. Sie wird eine Frau mit perfekten Füßen sein, die bereits ihre Loyalität, Treue und die Fähigkeit, in unserer geheimen Sprache zu schreiben, so gut unter Beweis gestellt hat, dass sie die laotong eines Mädchens aus ihrem eigenen Dorf werden durfte.«
    Es gab unendlich viele Variationen dieses Gesprächs, und ich hörte sie jeden Tag mit an. Was ich jedoch nicht mithören konnte, war, wie dies alles für meinen Vater übersetzt wurde, wenn Mama und Baba im Bett lagen. Dieser Bund würde kostspielig für meinen Vater werden – der ständige Austausch von Geschenken zwischen den beiden Freundinnen und ihren Familien, das Essen und Wasser während Schneeroses Besuchen in unserem Haus und die Kosten für meine Reisen nach Tongkou -, und dieses Geld hatte er nicht. Doch wie Ehrenwerte Frau Wang schon sagte, oblag es Mama, Baba davon zu überzeugen, dass das eine gute Idee war. Tante half auch dazu, indem sie Onkel ins Ohr flüsterte, denn die Zukunft von Schöner Mond war mit meiner verknüpft. Jeder, der behauptet, dass Frauen auf die Entscheidungen von Männern keinen Einfluss haben, unterliegt einem großen, dummen Irrtum.
    Schließlich fällte meine Familie die Entscheidung, die ich mir gewünscht hatte. Als Nächstes wurde überlegt, wie ich diesem Mädchen namens Schneerose antworten sollte. Mama half mir, ein Paar Schuhe, an denen ich gearbeitet hatte, noch reicher
zu besticken. Sie sollten mein erstes Geschenk sein. Nur bei der schriftlichen Antwort konnte sie mir nicht zur Seite stehen. Gewöhnlich wurde die Antwort auf einem neuen Fächer geschickt, und das galt dann gleichsam als Austausch der »Hochzeitsgeschenke«. Doch mir schwebte etwas anderes vor, das völlig mit der Tradition brach. Als ich Schneeroses verschlungene Girlande am oberen Rand des Fächers betrachtete, dachte ich an den alten Spruch: »Helmbohne und Papayas, lange Ranken, tiefe

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