Seidenfächer
ungern alles, was ich bisher gekannt hatte, zurücklassen, aber dieses Treffen nun erwartete ich voller Aufregung. Würde Schneerose mich mögen?
Ehrenwerte Frau Wang hielt die Tür der Sänfte auf, Mama setzte mich ab, und ich betrat den engen Raum. Schneerose war weit hübscher, als ich mir ausgemalt hatte. Ihre Augen waren vollkommene Mandeln. Ihre Haut war blass, sie hatte also nicht so viel Zeit im Freien verbracht wie ich in meinen Milchjahren. Ein roter Vorhang fiel neben ihr herab, und in ihren schwarzen Haaren schimmerte rosa getöntes Licht. Sie trug ein himmelblaues, mit einem Wolkenmuster besticktes Seidenjäckchen. Unter ihrer Hose spitzten die Schuhe hervor, die ich ihr gemacht hatte. Sie sagte nichts. Vielleicht war sie genauso aufgeregt wie ich. Sie lächelte nur, und ich erwiderte ihr Lächeln.
Die Sänfte hatte bloß einen Sitz, also mussten wir drei eng
zusammenrutschen. Damit das Gleichgewicht erhalten blieb, setzte sich Frau Wang in die Mitte. Die Träger hoben uns auf und marschierten bald über die Brücke, die aus Puwei hinausführte. Ich hatte vorher noch nie in einer Sänfte gesessen. Wir hatten vier Träger, die versuchten, so zu laufen, dass es nicht allzu sehr schaukelte, aber bei den zugezogenen Vorhängen, der Hitze, meiner inneren Unruhe und den seltsamen rhythmischen Bewegungen wurde mir übel. Ich war auch noch nie von zu Hause weg gewesen; selbst wenn ich aus dem Fenster hätte schauen können, hätte ich also gar nicht gewusst, wo ich war oder welche Strecke noch vor uns lag. Vom Gupotempelfest hatte ich schon gehört. Wer hatte das nicht? Jedes Jahr am zehnten Tag des fünften Monats kamen Frauen dorthin, um für die Geburt von Söhnen zu beten. Angeblich besuchten Tausende von Menschen dieses Fest. Das fand ich unvorstellbar. Als ich dann andere Geräusche durch den Vorhang dringen hörte – Glocken von Pferdekarren, unsere Träger, die anderen zuriefen: »Aus dem Weg!«, sowie Straßenverkäufer, die ihre Räucherstäbchen, Kerzen und andere Opfergaben für den Tempel anpriesen -, da wusste ich, dass wir unser Ziel erreicht hatten.
Die Sänfte hielt an, und die Träger setzten uns unsanft ab. Frau Wang beugte sich über mich, drückte die Tür auf, hieß uns stillhalten und stieg aus. Ich schloss die Augen, denn ich war froh, dass wir uns nicht mehr bewegten, und konzentrierte mich auf meinen Magen, als plötzlich eine Stimme meine Gedanken aussprach. »Bin ich froh, dass wir endlich halten. Ich dachte schon, mir wird gleich schlecht. Was hättest du dann nur von mir gedacht?«
Ich öffnete die Augen und sah Schneerose an. Ihre bleiche Haut war so grün geworden, wie ich mir meine vorstellte, aber in ihren Augen blitzte blanke Neugier. Verschwörerisch zog sie die Schultern bis unter die Ohren hoch und lächelte. Bald sollte ich lernen, dass uns dieses Lächeln in Schwierigkeiten bringen
würde, egal, was sie im Kopf hatte. Sie klopfte auf das Kissen neben sich und sagte: »Schauen wir doch mal, was da draußen los ist.«
Der Schlüssel zur Übereinstimmung unserer acht Zeichen war, dass wir beide im Jahr des Pferdes geboren waren. Das bedeutete, dass wir beide abenteuerlustig waren. Sie sah mich wieder an und schien zu überlegen, wie weit es mit meinem Mut wohl her war, was, wie ich zugeben muss, nicht sehr weit war. Ich holte tief Luft und rutschte auf ihre Seite der Sänfte, dann zog sie den Vorhang zurück. Nun konnte ich den Stimmen, die ich gehört hatte, Gesichter zuordnen, aber darüber hinaus bekam ich Erstaunliches zu sehen. Angehörige der Yao hatten Buden aufgebaut, die mit wehenden Stoffbahnen geschmückt waren – sie waren viel bunter als alles, was Mama und Tante je gemacht hatten. Eine Musikantentruppe in prächtigen Kostümen auf dem Weg zu einer Opernaufführung zog vorüber. Ein Mann führte ein Schwein an der Leine. Mir wäre nie eingefallen, dass jemand sein Schwein zum Verkauf auf einen solchen Markt mitbringen könnte. Alle paar Sekunden steuerte eine andere Sänfte um uns herum, wahrscheinlich saß in jeder eine Frau, die der Gupo ein Opfer bringen wollte. Viele Frauen waren auf der Straße unterwegs – Schwurschwestern, die in neue Dörfer geheiratet hatten und sich an diesem besonderen Tag verabredet hatten – in ihren besten Röcken und mit kunstvoll besticktem Kopfschmuck. Gemeinsam tippelten sie auf ihren goldenen Lilien die Straße entlang. Es gab so viel Schönes zu sehen, und alles wurde noch verstärkt durch einen unglaublich süßen
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