Seidenfächer
lehnte ihren Stock ans Bett und setzte sich neben mich.
»Ich habe dir immer gesagt, dass eine richtige Dame nichts Hässliches in ihr Leben lässt«, sagte sie, »und dass du Schönheit nur durch Schmerz finden wirst.«
Ich nickte bescheiden, aber innerlich schrie ich vor Entsetzen auf. Während des Füßebindens hatte sie diese Sätze immer und immer wieder wiederholt. Konnten die ehelichen Pflichten denn so schlimm sein?
»Ich hoffe, Lilie, dass du dich daran erinnerst, dass wir das Hässliche manchmal nicht vermeiden können. Du musst tapfer sein. Du hast versprochen, einen lebenslangen Bund zu schließen. Sei die Dame, die du sein solltest.«
Damit stand sie auf, stützte sich auf ihren Stock und hinkte aus dem Zimmer. Was sie gesagt hatte, beruhigte mich kein bisschen! Meine Entschlossenheit, meine Abenteuerlust und meine Stärke waren kaum mehr vorhanden. Nun fühlte ich mich wirklich wie eine Braut – furchtsam, traurig, und meine Familie wollte ich nun gar nicht mehr verlassen.
Als Schneerose wieder hereinkam und sah, dass ich ganz weiß vor Angst war, nahm sie den Platz meiner Mutter auf dem Bett ein und versuchte mich zu trösten.
»Zehn Jahre lang hast du dich auf diesen Augenblick vorbereitet«, beruhigte sie mich sanft. »Du folgst den Regeln, die in der Klassischen Schrift für Frauen niedergelegt sind. Du wählst sanfte Worte, doch dein Herz ist stark. Du kämmst dir die Haare auf schlichte Weise. Du trägst weder Rouge noch Puder
auf. Du kannst Baumwolle und Wolle spinnen, weben, nähen und sticken. Du kannst kochen, putzen, waschen, stets warmen Tee bereithalten, das Feuer im Ofen anzünden. Du pflegst deine Füße, wie es sich gehört. Jeden Abend entfernst du die alten Bandagen, bevor du ins Bett gehst. Du wäschst dir die Füße gründlich und benutzt die richtige Menge an Parfüm, bevor du saubere Bandagen anlegst.«
»Was ist mit … dem Liebesspiel?«
»Was soll damit sein? Deine Tante und dein Onkel hatten ihren Spaß dabei. Deine Mama und dein Baba haben es oft genug gemacht, um viele Kinder zu bekommen. Es kann nicht so schwer sein wie Sticken oder Putzen.«
Ich fühlte mich ein wenig besser, aber Schneerose war noch nicht fertig. Sie half mir ins Bett, kuschelte sich an mich und fuhr fort, mich zu loben.
»Du wirst eine gute Mutter sein, denn du bist liebevoll«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Gleichzeitig wirst du eine gute Lehrerin sein. Woher ich das weiß? Sieh doch nur, was du mir alles beigebracht hast.« Sie hielt einen Augenblick lang inne, um sicherzugehen, dass ich ihre Worte auch begriff, dann fuhr sie weit nüchterner fort. »Und außerdem habe ich gesehen, wie dich die Lus gestern und heute angeschaut haben.«
Ich wand mich aus ihren Armen und sah sie an. »Erzähl! Erzähl mir alles!«
»Weißt du noch, als Dame Lu dir die Suppe gebracht hat?«
Natürlich wusste ich das noch. Ich hielt es für den Beginn meiner lebenslangen Schande.
»Du hast am ganzen Körper gezittert«, sagte Schneerose. »Wie hast du das gemacht? Das ist allen Anwesenden aufgefallen. Jeder hat Bemerkungen über diese Kombination von Zartheit und Beherrschung gemacht. Als du da mit gesenktem Kopf saßest und gezeigt hast, wie vollkommen du bist, hat Dame Lu zu ihrem Mann hinübergeschaut. Sie hat anerkennend gelächelt,
und er hat ihr Lächeln erwidert. Du wirst sehen, Dame Lu ist streng, aber ihr Herz ist groß.«
»Aber …«
»Und wie die Lus alle auf deine Füße gesehen haben! Ach, Lilie, ich bin sicher, jeder in meinem Dorf freut sich darüber, dass du eines Tages die neue Dame Lu sein wirst. Jetzt versuch zu schlafen. Du hast noch viele lange Tage vor dir.«
Wir lagen, das Gesicht einander zugewandt. Schneerose legte mir die Hand auf die Wange, so wie sie es immer machte. »Schließ die Augen«, befahl sie mir leise. Ich tat, wie mir geheißen.
Am nächsten Tag kamen meine Schwiegereltern so früh in Puwei an, dass wir Tongkou noch am späten Nachmittag erreichen konnten. Als ich die Kapelle am Rand des Dorfes hörte, bekam ich Herzklopfen. Ich konnte mir nicht helfen, mir liefen die Tränen aus den Augen. Mama, Tante, Ältere Schwester und Schneerose weinten alle, als sie mich nach unten führten. Die Abgesandten des Bräutigams kamen bei unserer Schwelle an. Meine Brüder halfen, meine Mitgift in die wartenden Sänften zu tragen. Mit meinem Kopfschmuck konnte ich wieder niemanden sehen, aber ich hörte die Stimmen meiner Familie bei den letzten traditionellen Frage- und
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