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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Antwortgesängen.
    »Eine Frau wird nie von Wert sein, wenn sie nicht ihr Dorf verlässt!«, rief Mama.
    »Auf Wiedersehen, Mama«, sang ich als Antwort. »Danke, dass du eine wertlose Tochter aufgezogen hast.«
    »Auf Wiedersehen, Tochter«, murmelte Baba sanft.
    Als ich die Stimme meines Vaters vernahm, rannen mir die Tränen aus beiden Augen. Ich klammerte mich an das Geländer, das ins obere Gemach führte. Plötzlich wollte ich gar nicht mehr weg …
    »Als Frauen werden wir dafür geboren, unser Heimatdorf zu
verlassen«, sang Tante. »Du bist wie ein Vogel, der in eine Wolke fliegt und nie mehr wiederkehrt.«
    »Danke, Tante, dass du mich zum Lachen gebracht hast. Danke, dass du mir gezeigt hast, was Trauer wirklich bedeutet. Danke, dass du dein Wissen mit mir geteilt hast.«
    Tantes Schluchzen hallte aus dem dunklen Ort in ihr wider. Ich konnte sie nicht allein trauern lassen. Ich weinte genauso wie sie.
    Als ich nach unten blickte, sah ich die sonnengebräunten Hände von Onkel auf meinen liegen. Er zog meine Finger von dem Geländer, das sie umklammerten, weg.
    »Deine Blumensänfte wartet auf dich«, sagte er mit zittriger Stimme.
    »Onkel …«
    Dann hörte ich die Stimmen meiner Geschwister, die mir alle Lebewohl wünschten. Ich wollte sie sehen, statt nur die roten Troddeln vor Augen zu haben.
    »Älterer Bruder, danke für die Güte, die du mir erwiesen hast«, sang ich. »Zweiter Bruder, danke, dass ich für dich sorgen durfte, als du noch ein Baby mit geschlitzten Hosen warst. Ältere Schwester, danke für deine Geduld.«
    Draußen spielte die Kapelle lauter. Ich streckte die Hände aus. Mama und Baba ergriffen sie und halfen mir über die Schwelle. Als ich sie überschritt, baumelten die Troddeln vor meinem Gesicht hin und her. Ganz kurz sah ich ein paar Mal meine Sänfte aufblitzen, die mit Blumen und roter Seide bedeckt war. Mein hua jiao – meine Blumensänfte – war wunderschön.
    Alles, was man mir gesagt hatte, seit meine Verlobung vor sechs Jahren arrangiert worden war, ging mir durch den Kopf. Ich heiratete einen Tiger – laut Berechnung der Horoskope die beste Partie für mich. Mein Mann war wohlhabend, klug und gebildet. Seine Familie war respektiert, reich und großzügig. In
Gestalt meiner Brautgeschenke hatte ich davon bereits einen Eindruck bekommen, und auch meine Blumensänfte bewies das nun. Ich lockerte den Griff um die Hände meiner Eltern, und sie ließen mich los.
    Blind trat ich zwei Schritte vor und blieb stehen. Ich konnte nicht sehen, wohin ich ging. Ich streckte die Hände aus und wünschte, Schneerose würde sie ergreifen. Wie schon so oft kam sie mir zu Hilfe. Sie nahm meine Hand und führte mich zur Sänfte. Dann öffnete sie die Tür. Um mich herum hörte ich alle weinen. Mama und Tante sangen eine traurige Melodie – der übliche Abschied für eine Tochter. Schneerose beugte sich nahe zu mir und flüsterte mir etwas zu, so dass es niemand hören konnte.
    »Denke daran, wir sind für immer Weggefährtinnen.« Dann zog sie etwas aus ihrem Ärmel und schob es in meine Jacke. »Das habe ich für dich gemacht«, sagte sie. »Lies es auf dem Weg nach Tongkou. Wir sehen uns dort.«
    Ich stieg in die Sänfte. Die Träger hoben mich auf, und schon war ich unterwegs. Mama, Tante, Baba, Schneerose und ein paar Freundinnen aus Puwei folgten meinen Begleitern und mir bis zum Rand von Puwei und riefen mir noch letzte gute Wünsche nach. Ich saß allein in der Sänfte und weinte.
    Warum ich so ein Theater machte, wenn ich doch in drei Tagen wieder in mein Elternhaus zurückkehren würde? Ich kann das folgendermaßen erklären: Der Ausdruck, den wir für das Wegheiraten benutzen, lautet buluo fujia , und das bedeutet, dass man nicht sofort in das Haus seines Ehemannes »einfällt«. Luo heißt fallen, wie das Fallen der Blätter im Herbst, oder das Fallen im Tod. Und in unserem örtlichen Dialekt bedeutet das Wort für »Ehefrau« gleichzeitig auch »Gast«. Den Rest meines Lebens würde ich nur ein Gast im Haus meines Mannes sein – und zwar nicht einer, der mit besonderen Speisen, Geschenken oder einem weichen Bett verwöhnt wird, sondern
einer, der stets als Fremder, Außenseiter und Verdächtiger angesehen wird.
    Ich langte in meine Jacke und zog Schneeroses Päckchen hervor. Es war unser Seidenfächer, eingeschlagen in Stoff. Ich öffnete ihn und freute mich schon auf ihre frohen Worte. Ich überflog die einzelnen Falten, bis ich ihre Nachricht entdeckte. Zwei Vögel im Flug

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