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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Stickgarn, Stoff und das Dritter-Tag-Hochzeitsbuch, das ich für Schneerose vorbereitet hatte. Ich war froh, dass Yonggang mich führte, doch ganz wohl fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft noch nicht. Sie gehörte zu den Neuerungen in meinem Leben, an die ich mich erst noch gewöhnen musste.
    Tongkou war weitaus größer und wohlhabender als Puwei. Die Straßen waren sauber, und es liefen keine Hühner, Enten oder Schweine frei herum. Wir blieben vor einem Haus stehen, das genauso aussah, wie Schneerose es beschrieben hatte – zweistöckig, friedlich, elegant. Ich war noch nicht lange genug dort, um die Gebräuche im Dorf zu kennen, aber eines war nicht anders als in Puwei. Wir kündigten unsere Ankunft weder durch Rufe noch durch Klopfen an. Yonggang öffnete einfach
die Tür zu Schneeroses Haus und trat ein. Ich folgte ihr und war sofort von einem seltsamen Geruch umgeben, eine Kombination von Jauche und verwesendem Fleisch, und darüber lag etwas abstoßend Süßliches. Ich hatte keine Ahnung, wo dieser Gestank herkommen könnte, nur schien er irgendwie menschlich zu sein. Mein Magen krampfte sich zusammen, aber meine Augen rebellierten noch mehr und weigerten sich zu akzeptieren, was sie sahen.
    Der Hauptraum war viel größer als der in meinem Elternhaus, aber er enthielt weit weniger Möbel. Ich sah einen Tisch, aber keine Stühle. Ich sah eine geschnitzte Balustrade, die ins Frauengemach führte, aber bis auf diese wenigen Dinge – die handwerklich von weitaus besserer Qualität waren als alles in meinem Elternhaus – gab es nichts. Nicht einmal ein Feuer. Es war mittlerweile Spätherbst und schon kalt. Das Zimmer war außerdem schmutzig, und Essensreste lagen auf dem Boden. Es gab auch noch weitere Türen, die wahrscheinlich zu Schlafzimmern führten.
    Das war nicht nur völlig anders als das, was ein Passant von der Außenansicht des Hauses her erwartet hätte, sondern es entsprach auch keineswegs dem, was Schneerose beschrieben hatte. Ich musste im falschen Haus sein.
    Unter der Decke befanden sich mehrere Fenster, die alle bis auf eines versiegelt waren. Ein einzelner Lichtstrahl aus diesem Fenster durchbrach die Dunkelheit. In den düsteren Schatten machte ich eine Frau aus, die über einem Waschbecken hockte. Sie trug zerschlissene und schmutzige wattierte Kleider wie eine einfache Bäuerin. Unsere Blicke trafen sich, dann schaute sie schnell wieder weg. Mit gesenktem Kopf stand sie auf und trat in den Lichtstrahl. Ihre Haut war schön – so weiß und rein wie Porzellan. Sie führte die Hände zusammen und verneigte sich.
    »Frau Lilie, willkommen, willkommen.« Sie sprach ganz leise, doch nicht aus Achtung vor meinem neuen höheren Status, sie
schien vielmehr aus Furcht die Stimme zu senken. »Wartet hier. Ich hole Schneerose.«
    Nun war ich völlig außer mir. Schneerose musste also doch hier wohnen. Aber wie konnte das sein? Als die Frau zur Treppe hinüberging, sah ich, dass sie goldene Lilien hatte, beinahe so klein wie meine eigenen. Ahnungslos, wie ich war, fand ich das erstaunlich für jemanden aus der Dienerschaft.
    Ich lauschte angestrengt, als die Dienerin oben mit jemandem sprach. Dann hörte ich das Unmögliche – Schneeroses Stimme, in ihrem trotzigsten, streitsüchtigsten Tonfall. Ich war entsetzt, ja, von Grund auf entsetzt. Doch abgesehen von diesem einen vertrauten Klang war das Haus unheimlich still. Und in dieser Stille spürte ich etwas, das irgendwo lauerte wie ein böser Geist aus dem Jenseits. Mein ganzer Körper sperrte sich dagegen. Vor Abscheu bekam ich eine Gänsehaut. Ich zitterte in meiner wassergrünen Seidenjacke, mit der ich Schneeroses Eltern hatte beeindrucken wollen, die aber keinen Schutz gegen den feuchten Wind bot, der durch das Fenster blies, oder gegen die Angst, die ich an diesem fremden, dunklen, stinkenden, unheimlichen Ort verspürte.
    Schneerose erschien oben an der Treppe. »Komm hoch!«, rief sie zu mir herunter.
    Ich stand wie gelähmt da und versuchte verzweifelt zu begreifen, was ich da sah. Etwas berührte mich am Arm, und ich erschrak.
    »Der Meister würde bestimmt nicht wollen, dass ich Euch hier lasse«, sagte Yonggang mit sorgenvollem Blick.
    »Der Meister weiß, wo ich bin«, antwortete ich, ohne nachzudenken.
    »Lilie …« In Schneeroses Stimme klang eine tiefe Verzweiflung durch, die ich noch nie bei ihr gehört hatte.
    Dann blitzte eine Erinnerung auf, erst ein paar Tage alt. Meine Mutter hatte mir gesagt, dass ich als Frau das

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