Seidenfächer
unter diesem fremden Mann liegen würde und nicht ich.
Am zweiten Tag meiner Hochzeit stand ich früh auf. Ich ließ meinen Mann weiterschlafen und trat hinaus in den Korridor. Kennst du das Gefühl, wenn du ganz krank vor Sorge bist? Dieses Gefühl hatte ich von dem Moment an, an dem ich Schneeroses Brief gelesen hatte, aber ich konnte nichts tun – nicht während meiner Hochzeit, nicht in der vergangenen Nacht und nicht einmal jetzt. Ich musste mich bemühen, dem vorgeschriebenen Ablauf zu folgen, bis ich sie wiedersah. Aber es war schwer, denn ich war hungrig, erschöpft, und mir tat alles weh. Meine Füße waren müde und wund von dem vielen Laufen in den letzten paar Tagen. Auch an einer anderen Stelle tat es ein bisschen weh, aber ich versuchte, diese Dinge aus meinem Kopf zu vertreiben, als ich zur Küche ging, wo ein etwa zehnjähriges Dienstmädchen in der Hocke saß und offensichtlich auf mich wartete. Ein eigenes Dienstmädchen – davon hatte mir niemand etwas gesagt. In Puwei hatte man keine Diener, aber ich erkannte gleich, was sie war, denn ihre Füße waren nicht eingebunden worden. Sie hieß Yonggang, was »tapfer« und »stark wie Eisen« bedeutet. (Das sollte sich noch als wahr erweisen.) Sie hatte bereits Feuer gemacht und Wasser in die Küche geholt. Ich musste nur noch das Wasser erhitzen und es meinen Schwiegereltern bringen, damit sie sich das Gesicht waschen konnten. Ich kochte auch Tee für alle Mitglieder des Haushalts und schenkte jedem, der in die Küche kam, ein, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten.
Später an diesem Tag schickten meine Schwiegereltern eine weitere Lieferung Schweinefleisch und süße Kuchen an meine Familie. Die Lus hielten ein großes Fest in ihrem Ahnentempel ab, wieder ein Festmahl, bei dem ich nichts essen durfte. Vor allen anderen verbeugten sich mein Mann und ich vor Himmel und Erde, meinen Schwiegereltern und den Ahnen der Familie Lu. Dann gingen wir durch den Tempel und verbeugten uns vor jedem, der älter war als wir. Im Gegenzug erhielten wir in rotes Papier gewickeltes Geld. Dann ging es zurück ins Hochzeitsgemach.
Der nächste Tag – der dritte einer Hochzeit – ist derjenige, auf den sich alle Bräute freuen, denn dann werden die Dritter-Tag-Hochzeitsbücher gelesen, die Familie und Freunde angefertigt haben. Doch mittlerweile konnte ich nur noch an Schneerose denken und dass ich sie bei dieser Gelegenheit sehen würde.
Ältere Schwester und die Frau von Älterer Bruder kamen und brachten die Bücher und Speisen, die ich endlich essen durfte. Viele Frauen aus Tongkou gesellten sich zu den Frauen aus der Familie meines Mannes, um die Texte zu lesen, aber weder Schneerose noch ihre Mutter kamen. Ich konnte das überhaupt nicht begreifen. Ich war zutiefst verletzt … und es machte mir Angst, dass Schneerose nicht da war. Das sollte nun also das schönste aller Hochzeitsrituale sein, und ich konnte es nicht genießen.
Meine sanzhaoshu enthielten all die üblichen Zeilen über das Leid meiner Familie, weil ich nun nicht mehr bei ihr war. Gleichzeitig priesen sie meine Tugenden und wiederholten Sätze wie: Wenn wir nur diese ehrenwerte Familie überzeugen könnten, noch ein paar Jahre zu warten, bevor sie dich zu sich nehmen oder Es ist traurig, dass wir von nun an getrennt sind , während meine Schwiegereltern inständig gebeten wurden, nachsichtig zu sein und mir die Gebräuche ihrer Familie geduldig
beizubringen. Schneeroses sanzhaoshu entsprach ebenfalls meinen Erwartungen, denn es ging um ihre Liebe zu Vögeln. Es begann: Der Phönix paart sich mit dem goldenen Huhn, ein Bund, der im Himmel geschlossen wurde. Wieder handelte es sich dabei um Standardsätze, sogar von meiner laotong .
WAHRHEIT
U nter normalen Umständen wäre ich am vierten Tag nach meiner Hochzeit nach Hause zu meiner Familie in Puwei gefahren, aber ich hatte seit langem geplant, direkt zu Schneerose zu gehen, um den Monat des Sitzens und Singens bei ihr zu verbringen. So kurz vor unserem Wiedersehen war ich gespannter denn je. Ich zog eines meiner guten Alltagsgewänder an – eine wassergrüne Seidenjacke und Hosen, die mit einem Bambusmuster bestickt waren. Ich wollte nicht nur auf jeden, dem ich in Tongkou begegnete, einen guten Eindruck machen, sondern auch auf Schneeroses Familie, von der ich in all den Jahren so viel gehört hatte. Yonggang, das Dienstmädchen, führte mich durch die Gassen von Tongkou. In einem Korb trug sie meine Kleider, mein
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