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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Hässliche manchmal
nicht vermeiden könne und dass ich tapfer sein müsse. »Du hast einen lebenslangen Bund geschlossen«, hatte sie gesagt. »Sei die Dame, die du sein solltest.« Sie hatte also gar nicht über das Liebesspiel mit meinem Mann gesprochen. Das hier hatte sie gemeint. Schneerose war meine Weggefährtin, mein ganzes Leben lang. Für Schneerose empfand ich eine größere und tiefere Liebe, als ich je für den Menschen, der mein Ehemann war, empfinden konnte. Das war die wahre Bedeutung einer laotong -Beziehung.
    Ich trat einen Schritt vor und hörte eine Art Wimmern von Yonggang. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte noch nie Dienstboten gehabt. Ich klopfte ihr zögerlich auf die Schulter. »Geh nur.« Ich versuchte zu klingen, wie es sich für eine Herrin gehörte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie das ging. »Ich komme hier schon zurecht.«
    »Wenn Ihr aus irgendeinem Grund weg müsst, geht einfach hinaus und ruft um Hilfe«, schlug Yonggang vor, die immer noch besorgt war. »Meister und Dame Lu kennt hier jeder. Man wird Euch zum Haus Eurer Schwiegereltern bringen.«
    Ich streckte den Arm aus und nahm ihr den Korb ab. Als sie sich nicht rührte, nickte ich ihr zu, sie solle aufbrechen. Resigniert seufzte sie, verbeugte sich rasch, ging rückwärts zur Schwelle, drehte sich um – und weg war sie.
    Mit dem Korb fest in der Hand, stieg ich die Treppe hoch. Als ich mich Schneerose näherte, sah ich, dass ihre Wangen tränennass waren. Wie die Dienerin trug sie graue, schlecht sitzende und nicht gut geflickte wattierte Kleider. Ich blieb eine Stufe vor dem Treppenabsatz stehen.
    »Es hat sich nichts geändert«, sagte ich. »Wir sind Weggefährtinnen.«
    Sie nahm meine Hand, half mir die letzte Stufe hinauf und führte mich ins Frauengemach. Ich sah gleich, dass auch dieser Raum früher einmal hübsch gewesen war. Er war vielleicht
dreimal so groß wie das Frauengemach in meinem Elternhaus. Statt der vertikalen Stäbe verdeckte ein kunstvoll geschnitztes Holzgitter das Fenster. Ansonsten war das Zimmer leer, bis auf ein Spinnrad und ein Bett. Die schöne Frau, die die Hände sittsam im Schoß gefaltet hatte, saß anmutig auf dem Bettrand. Ihre Bauernkleider konnten ihre Kinderstube nicht verbergen.
    »Lilie«, sagte Schneerose, »das ist meine Mutter.«
    Ich ging durch das Zimmer, faltete die Hände und verneigte mich vor der Frau, die meine laotong in diese Welt gebracht hatte.
    »Ihr müsst unsere Umstände verzeihen«, sagte Schneeroses Mutter. »Ich kann Euch nur Tee anbieten.« Sie erhob sich. »Ihr Mädchen habt viel zu besprechen.« Damit schwankte sie aus dem Zimmer, mit der erhabenen Anmut, die von perfekt gebundenen Füßen herrührt.
    Als ich mein Elternhaus vier Tage zuvor verlassen hatte, waren mir Tränen über das Gesicht geströmt. Ich war traurig, glücklich und ängstlich zugleich. Doch als ich jetzt mit Schneerose auf ihrem Bett saß, sah ich auf ihren Wangen Tränen der Reue, der Schuld, der Scham und der Verlegenheit. Am liebsten hätte ich sie angeschrien: »Erzähl mir alles!« Stattdessen wartete ich auf die Wahrheit, und mir wurde klar, dass Schneerose mit jedem Wort auch noch die letzte Glaubwürdigkeit verlieren würde, die noch übrig war.
    »Lange bevor du und ich uns kennen gelernt haben«, begann Schneerose schließlich, »war meine Familie eine der besten im Landkreis. Du siehst ja …«, hilflos streckte sie den Arm aus, »… dass es hier früher einmal prächtig eingerichtet war. Wir waren sehr wohlhabend. Mein Urgroßvater, der Gelehrte, bekam viele mou vom Kaiser. Doch als der Kaiser starb, fiel mein Urgroßvater in Ungnade. Er kam nach Hause, um sich zur Ruhe zu setzen. Das Leben war gut. Als er starb, übernahm sein Sohn, mein Großvater …«

    Ich hörte ihr zu, während mir der Kopf schwirrte.
    »Mein Großvater hatte viele Arbeiter und viele Diener. Er hatte drei Konkubinen, aber sie schenkten ihm nur Töchter. Meine Großmutter bekam schließlich einen Sohn und sicherte sich ihren Platz. Für diesen Sohn wählten sie meine Mutter als Ehefrau. Die Leute sagen, sie glich Hu Yuxiu, die so begabt und so bezaubernd war, dass sie die Aufmerksamkeit eines Kaisers auf sich gezogen hat. Mein Vater war kein kaiserlicher Gelehrter, aber er beherrschte die Klassiker. Von ihm hieß es, er würde eines Tages das Oberhaupt von Tongkou werden. Mama glaubte daran. Doch manche sahen seine Zukunft anders. Meine Großeltern erkannten Schwäche in meinem Vater, weil

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