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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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er als einziger Sohn in einem Haus mit zu vielen Schwestern und zu vielen Konkubinen groß geworden war, während meine Tante vermutete, dass er feige war und anfällig für das Laster.«
    Schneeroses Blick war in die Ferne gerichtet, während sie eine Vergangenheit durchlebte, die es nicht mehr gab. »Zwei Jahre nach meiner Geburt starben meine Großeltern«, fuhr sie fort. »Meine Familie hatte alles – prachtvolle Kleider, reichlich zu essen, viele Bedienstete. Mein Vater nahm mich auf Reisen mit, meine Mutter fuhr mit mir zum Gupotempel. Ich sah und lernte viel als Mädchen. Doch mein Vater musste sich um die drei Konkubinen meines Großvaters kümmern und seine vier leiblichen Schwestern verheiraten sowie die fünf Halbschwestern, die von den Konkubinen abstammten. Er musste den Feldarbeitern und Hausdienern außerdem Arbeit, Essen und Obdach stellen. Für die Schwestern und Halbschwestern wurden Ehen arrangiert. Mein Vater hatte das Gefühl, er müsse jedem zeigen, was für ein wichtiger Mann er war. Jeder Brautpreis war höher als der letzte. Er begann damit, Felder an den großen Landbesitzer im Westen unserer Provinz zu verkaufen, damit er noch mehr Seide oder noch ein Schwein, das als Brautpreis geschlachtet werden sollte, schicken konnte. Meine Mutter,
du hast sie ja gesehen, sie ist äußerlich schön, aber innerlich ist sie ganz so, wie ich es war, bevor ich dich traf – verwöhnt, behütet, und sie kennt keine anderen Frauenarbeiten als Sticken und Nushu. Mein Vater …« Schneerose zögerte, dann platzte sie heraus: »Mein Vater hat sich das Pfeiferauchen angewöhnt.«
    Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Ehrenwerte Frau Gao uns so verärgert hatte, indem sie über Schneeroses Familie gesprochen hatte. Sie hatte Glücksspiele und Konkubinen erwähnt, aber auch, dass Schneeroses Vater gewohnheitsmäßig Pfeife rauchte. Ich war damals neun Jahre alt. Ich hatte gedacht, er rauche zu viel Tabak. Nun begriff ich nicht nur, dass Schneeroses Vater ein Opfer der Opiumpfeife geworden war, sondern auch, dass damals im Frauengemach alle außer mir ganz genau gewusst hatten, wovon Frau Gao redete. Meine Mutter hatte es gewusst, meine Tante hatte es gewusst, Ehrenwerte Frau Wang hatte es gewusst. Sie alle hatten es gewusst, und doch waren sie sich einig gewesen, dass ich an diesem allgemeinen Wissen nicht teilhaben sollte.
    »Lebt dein Vater noch?«, fragte ich vorsichtig. Sie hätte es mir bestimmt gesagt, wenn er gestorben wäre, aber in Anbetracht all ihrer anderen Lügen konnte ich mir bei nichts mehr sicher sein.
    Sie nickte, sagte aber sonst nichts mehr dazu.
    »Ist er da unten?«, fragte ich und dachte an den seltsamen, ekelhaften Geruch im Hauptraum.
    Ihr Gesicht wurde ganz ruhig, dann hob sie die Augenbrauen. Ich begriff das als »ja«.
    »Der Wendepunkt kam mit der Hungersnot«, fuhr Schneerose fort. »Kannst du dich daran erinnern? Wir hatten uns noch nicht kennen gelernt, aber damals folgte eine besonders schlechte Ernte auf einen sehr harten Winter.«
    Wie hätte ich das vergessen können? Das Beste, was wir damals zu essen hatten, war Reisschleim mit gedörrten Rüben.
Mama war sparsam, Baba und Onkel aßen kaum etwas, aber wir hatten überlebt.
    »Mein Vater war nicht darauf vorbereitet«, gab Schneerose zu. »Er hat seine Pfeife geraucht und uns vergessen. Eines Tages sind dann die Konkubinen meines Großvaters verschwunden. Vielleicht sind sie zurück in ihre Elternhäuser gegangen. Vielleicht sind sie im Schnee gestorben. Keiner weiß es. Als dann der Frühling kam, wohnten nur noch meine Eltern, meine beiden Brüder, meine beiden Schwestern und ich in dem Haus. Nach außen hin lebten wir noch so elegant wie vorher, in Wirklichkeit aber bekamen wir nun regelmäßig Besuch von den Schuldeneintreibern. Mein Vater verkaufte noch mehr Grundstücke. Schließlich hatten wir nur noch das Haus. Ihm war mittlerweile seine Pfeife wichtiger geworden als wir. Bevor er die Möbel versetzen musste – ach, Lilie, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie hübsch das alles war -, wollte er lieber mich verkaufen.«
    »Doch nicht als Dienerin!«
    »Schlimmer – als kleine Schwiegertochter.«
    Das war immer das Schrecklichste gewesen, was ich mir vorstellen konnte – die Füße nicht gebunden zu bekommen, von Fremden aufgezogen zu werden, die so niedrige Moralvorstellungen hatten, dass sie keine richtige Schwiegertochter wollten, schlechter behandelt zu werden als eine Dienerin. Und nun, wo ich verheiratet war,

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