Seidenfächer
ausschließlich im oberen Gemach verbracht, umgeben von Frauen, die eine ganz bestimmte Zukunft für mich geplant hatten. Das Gleiche konnte für die Männer unten gesagt werden. Aber wenn ich so über sie alle nachdachte – Mama, Tante, Baba, Onkel, Ehrenwerte Frau Gao, Ehrenwerte Frau Wang, selbst Schneerose -, dann war die Einzige, der ich wirklich etwas vorwerfen konnte, meine Mutter. Frau Wang hat sie vielleicht am Anfang überlistet, aber später hatte meine Mutter dann doch die Wahrheit erfahren und beschlossen, mir nichts zu sagen. Meine Gefühle für meine Mutter änderten sich nun, da ich begriff, dass ihre gelegentlichen Zeichen der Zuneigung, die für mich nunmehr lediglich Bestandteil ihrer einen großen Lüge des Verschweigens waren, mich schlicht auf dem Kurs zu der
guten Heirat halten sollten, die meiner gesamten Familie nutzen würde.
Ich befand mich in einem Zustand höchster Verwirrung, und ich glaube, in diesem Moment wurde der Boden bereitet für das, was später geschah. Ich kannte mich nicht mehr aus. Ich begriff nicht, sah nicht, was wichtig war. Ich war nur eine törichte junge Frau, die dachte, sie kenne sich aus, weil sie verheiratet war. Ich hatte keine Lösung für dies alles zur Hand, also vergrub ich alles ganz, ganz tief in mir drinnen. Doch meine Gefühle verschwanden nicht, und das konnten sie auch nicht. Es war, als hätte ich das Fleisch eines kranken Schweins gegessen, das mich langsam von innen heraus vergiftete.
Ich war noch nicht die Dame Lu geworden, die heute für ihre Güte, ihr Mitgefühl und ihre Stärke geachtet wird. Trotzdem, von dem Moment an, in dem ich Schneeroses Haus betreten hatte, spürte ich etwas Neues in mir. Man muss nur an das verdorbene Schweinefleisch denken, dann wird klar, was ich meine. Ich musste so tun, als wäre ich nicht krank oder infiziert, also benutzte ich meine Willenskraft zu einem guten Zweck. Ich wollte der Familie meines Mannes Ehre machen, indem ich wohltätig und freundlich zu Menschen in den niedrigsten Lebensumständen war. Ich wusste natürlich nicht, wie man das machte, denn mit solchen Dingen war ich nicht aufgewachsen.
Schneerose sollte in einem Monat heiraten, also half ich ihr und ihrer Mutter, das Haus zu putzen. Ich wollte es für die Leute des Bräutigams vorzeigbar machen, aber des üblen Gestanks, der in allen Zimmern herrschte, konnte kein Mensch Herr werden. Der abstoßende süßliche Geruch kam von dem Opium, das Schneeroses Vater rauchte. Und der andere Gestank kam, wie du sicher bereits vermutet hast, aus seinen Eingeweiden. Wir verbrannten Räucherwerk und Essig, ohne dass es etwas nutzte. Und selbst in diesen kühlen Monaten half es nichts, alle
Fenster zu öffnen. All das konnte nichts gegen den Schmutz dieses Mannes und seiner Gewohnheiten ausrichten.
Ich sah, wie es in diesem Haushalt zuging, in dem zwei Frauen in Angst vor dem Mann lebten, der in einem Zimmer im Erdgeschoss hauste. Ich hörte ihre gedämpften Stimmen und sah sie instinktiv den Kopf einziehen, wenn er sie rief. Und ich sah auch den Mann selbst – er lag da in seinem Gestank und seiner Unordnung. Noch in dieser Armut führte er sich bockig und jähzornig auf wie ein verwöhntes Kind. Früher einmal mag er vielleicht wirklich seine Frau und seine Tochter geschlagen haben, aber jetzt war er nur noch ein Wesen im Drogenrausch, das man besser mit seinem Laster allein ließ.
Ich versuchte, meine Gefühle nicht zu zeigen. In diesem Haus waren schon genügend Tränen geflossen, da mussten meine nicht auch noch dazukommen. Ich bat darum, Schneeroses Brautgeschenke sehen zu dürfen. Insgeheim dachte ich: Vielleicht ist diese Metzgerfamilie gar nicht so schlimm. Ich hatte die Seidenstoffe gesehen, an denen Schneerose arbeitete. Diese Leute mussten relativ wohlhabend sein, selbst wenn sie geistig unrein waren.
Schneerose öffnete eine Holzkiste und breitete alles, was sie gemacht hatte, sorgfältig auf dem Bett aus. Ich sah die himmelblauen Seidenschuhe mit dem Wolkenmuster, die sie an dem Tag, an dem Schöner Mond gestorben war, fertig gestellt hatte. Ich sah eine Jacke, bei der vorne ebenfalls ein Stück von dieser Seide eingesetzt war, und dann reihte Schneerose fünf Paar Schuhe unterschiedlicher Größe aus demselben Stoff, aber zusätzlich mit Mustern bestickt, auf. Mir kam das alles bekannt vor, und auf einmal wurde mir klar, weshalb. All diese Sachen waren aus der Jacke gemacht worden, die Schneerose an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal
Weitere Kostenlose Bücher