Seidenfächer
kälter. Schneeroses jüngerer Bruder kam eines Tages und klebte Papier vor das Gitterfenster. Dennoch kroch die Feuchtigkeit herein. Unsere Finger wurden klamm und rot von der ständigen Kälte. Die drei Mädchen trauten sich gar nicht, viel zu sagen. So konnte es nicht weitergehen. Deshalb schlug ich vor, dass wir hinunter in die Küche zogen, wo wir uns am Kohlenbecken wärmen konnten. Ehrenwerte Frau Wang
und Schneeroses Mutter fügten sich mir, was mir einmal mehr zeigte, dass ich nun Macht besaß.
Mein Dritter-Tag-Hochzeitsbuch für Schneerose hatte ich schon vor langer Zeit gemacht. Es enthielt lauter frohe Voraussagen für Schneerose und ihre Zukunft, aber das alles traf nun nicht mehr zu. Ich fing wieder von neuem an. Ich schnitt Indigostoff für den Umschlag zu, legte ihn um mehrere Blätter Reispapier und nähte den Einband mit weißem Faden fest. Die Umschlagseite innen beklebte ich an den Ecken mit roten Papiermustern. Die ersten Seiten waren meinem Abschiedslied für Schneerose vorbehalten, danach sollte ich sie ihrer neuen Familie vorstellen, und der Rest wurde freigelassen, damit sie selbst etwas hineinschreiben konnte oder Platz für ihre Stickmuster hatte. Ich zerrieb Tusche auf Stein, dann nahm ich meinen Pinsel zur Hand, um die Schriftzeichen in unserer Geheimsprache zu schreiben. Jeden Strich führte ich so perfekt wie möglich aus. Ich durfte nicht zulassen, dass meine Hand – unstet von den Ereignissen dieser Tage – diese Sätze verdarb.
Als die dreißig Tage vorüber waren, begann der Tag der Trauer und des Kummers. Schneerose blieb oben. Ihre Mutter setzte sich auf die vierte Stufe der Treppe, die zum Frauengemach führte. Unsere Lieder waren mittlerweile schon länger geworden und hatten sich weiterentwickelt. Obwohl Schneeroses Vater bei jedem Geräusch wütend werden konnte, erhob ich die Stimme, um von meinen Gefühlen zu singen und gute Ratschläge zu geben.
»Eine gute Frau sollte die ungünstige Stellung ihres Mannes nicht verabscheuen«, sang ich in Erinnerung an »Die Geschichte der Ehefrau Wang«. »Hilf deiner Familie dabei, eine bessere Stellung zu erlangen. Diene und gehorche deinem Ehemann.«
Schneeroses Mutter und Tante wiederholten diese Ratschläge. »Als gute Töchter müssen wir gehorchen«, sangen sie gemeinsam. Wenn man ihre Stimmen so schön zusammen klingen
hörte, konnte niemand an ihrer gegenseitigen Zuneigung und Treue zweifeln. »Wir müssen in unseren oberen Gemächern bleiben, sittsam und bescheiden sein und die weiblichen Künste vervollkommnen. Es ist unsere Tochterpflicht, unser Zuhause zu verlassen. Das ist unser Schicksal. Wenn wir ins Heim unserer Ehemänner kommen, tun sich neue Welten auf – manchmal bessere, manchmal schlechtere.«
»Wir haben unsere glücklichen Tochtertage zusammen verbracht«, erinnerte ich Schneerose. »Jahr um Jahr waren wir nie einen Schritt auseinander. Jetzt werden wir genauso zusammen sein.« Ich erinnerte mich, was wir ganz zu Anfang in den Fächer und in unserem laotong -Vertrag geschrieben hatten. »Wir werden uns immer noch flüsternd unterhalten. Wir werden uns immer noch die Farben unseres Garns aussuchen, den Zwirn einfädeln und zusammen sticken.«
Schneerose erschien oben an der Treppe. Ihre Stimme drang zu mir nach unten. »Ich dachte, wir würden für alle Zeiten zusammen in die Luft aufsteigen – zwei Phönixe im Flug. Jetzt bin ich wie etwas Totes, das auf den Grund eines Teichs sinkt. Du sagst, wir werden trotzdem zusammen sein. Ich glaube dir. Aber meine Schwelle wird an deine kaum heranreichen können.«
Langsam kam sie herabgestiegen und setzte sich neben ihre Mutter. Wir erwarteten bittere Tränen, doch sie blieben aus. Sie hängte sich bei ihrer Mutter ein und lauschte höflich den Klagegesängen der Dorfmädchen. Als ich Schneerose ansah, wunderte ich mich über ihre scheinbare Gefühllosigkeit, wo doch selbst ich – die so gespannt wegen ihrer guten Aussichten gewesen war – während dieser Zeremonie geweint hatte. Waren Schneeroses Gefühle so im Aufruhr wie meine? Sicherlich würde sie ihre Mutter vermissen, aber würde sie auch ihren abscheulichen Vater vermissen? Oder würde sie es vemissen, jeden Morgen in diesem leeren Haus aufzuwachen, das stets nur eine Erinnerung daran war, was alles mit ihrer Familie schiefgegangen
war? Es war schrecklich, in das Haus eines Metzgers einzuheiraten, aber konnte es, praktisch betrachtet, schlimmer sein als das hier? Außerdem war Schneerose auch als Pferd
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