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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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sichtbar auf der anderen Seite des zweiten Tors zu meiner Linken. Alle Häuser in dieser Gegend waren prachtvoll, aber das meiner Schwiegereltern war ganz besonders schön. Auch heute noch bin ich froh, hier zu wohnen. Das Haus hat die üblichen zwei Geschosse. Es ist aus Ziegeln gebaut und außen verputzt. Oben unter den Dachgiebeln befinden sich bemalte Tafeln mit hübschen Mädchen und gut aussehenden Männern, die studieren, musizieren, Schriftzeichen malen, Rechnungen prüfen. Mit diesen Dingen hat man sich in diesem Haus schon immer beschäftigt, deshalb teilen die Bilder den Vorüberkommenden mit, was für Menschen
hier leben und wie wir unsere Zeit verbringen. Die Innenwände sind mit den feinen Hölzern unserer Wälder getäfelt, während die Räume mit geschnitzten Säulen, Gitterfenstern und Balustraden verziert sind.
    Als ich dort ankam, sah der Hauptraum im Großen und Ganzen so aus wie heute noch – mit eleganten Möbeln, einem Holzboden, einer guten Durchlüftung von den hohen Fenstern her und einer Treppe an der Ostwand zu einem Holzbalkon, der mit einem Muster aus sich überlappenden Rauten verziert war. Damals schliefen meine Schwiegereltern in dem größten Zimmer auf der Rückseite des Hauses im Erdgeschoss. Jeder meiner Schwäger hatte ein eigenes Zimmer, das an den Hauptraum angrenzte. Später wohnten dann ihre Ehefrauen bei ihnen. Wenn sie keine Söhne bekamen, zogen diese Frauen schließlich in andere Räume um, und Konkubinen oder kleine Schwiegertöchter nahmen ihren Platz in den Betten meiner Schwäger ein.
    Während meiner Besuche waren die Nächte dem Liebesspiel mit meinem Mann gewidmet. Wir mussten einen Sohn bekommen, und wir strengten uns beide sehr an, das Notwendige dafür zu tun. Ansonsten sahen mein Mann und ich uns nicht sehr oft – er verbrachte die Tage mit seinem Vater, während ich bei seiner Mutter war -, doch mit der Zeit lernten wir uns besser kennen, so dass unsere abendliche Aufgabe erträglicher wurde.
    Wie in den meisten Ehen war die wichtigste Person, zu der ich eine Beziehung aufbauen musste, meine Schwiegermutter. Alles, was mir Schneerose erzählt hatte, stimmte: Dame Lu folgte allen üblichen Konventionen. Sie sah mir zu, während ich die gleichen Hausarbeiten verrichtete wie in meinem Elternhaus – Tee und Frühstück machen, Wäsche und Bettzeug waschen, das Mittagessen zubereiten, nachmittags nähen, sticken und weben und schließlich das Abendessen kochen. Meine Schwiegermutter gab mir ohne Zögern Anweisungen. »Schneide
die Melone in kleinere Würfel«, sagte sie etwa, als ich einmal Wintermelonensuppe machte. »Die Stücke, die du geschnitten hast, kann man nur unseren Schweinen geben.« Oder: »Mir ist etwas von meiner Monatsblutung auf das Bettzeug geraten. Du musst fest schrubben, damit du die Flecken herausbekommst.« Sie schnüffelte an dem Essen, das ich von zu Hause mitbrachte, und sagte: »Das nächste Mal bringst du etwas mit, was nicht so stark riecht. Der Geruch verdirbt meinem Mann und meinen Söhnen den Appetit.« Sobald die Zeit des Besuchs vorüber war, wurde ich ohne Dank oder Gruß nach Hause geschickt.
    Damit wäre ungefähr zusammengefasst, wie es um mich stand – nicht zu schlecht, nicht zu gut, einfach ganz normal. Dame Lu war gerecht; ich war gehorsam und lernwillig. Mit anderen Worten, uns beiden war klar, was von uns erwartet wurde, und wir bemühten uns, unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Am zweiten Tag nach dem ersten Neujahr seit meiner Hochzeit lud meine Schwiegermutter alle unverheirateten Mädchen von Tongkou zu einem Besuch ein und dazu noch alle Mädchen, die wie ich vor kurzem in das Dorf eingeheiratet hatten. Sie bot Tee und Häppchen an. Sie war höflich und liebenswürdig. Als die anderen alle gingen, begleiteten wir sie. Wir besuchten an diesem Tag fünf Haushalte, und ich lernte fünf neue Schwiegertöchter kennen. Wäre ich nicht schon Schneeroses laotong gewesen, hätte ich vielleicht überlegt, wer von ihnen einem nachehelichen Schwurschwesternbund nicht abgeneigt wäre.
     
    Schneerose und ich sahen uns zum ersten Mal bei unserem jährlichen Besuch im Gupotempel wieder. Man sollte meinen, wir hätten uns viel zu erzählen gehabt, aber wir waren beide sehr still. Ich glaube, sie hatte Schuldgefühle – weil sie mich all die Jahre angelogen hatte und wegen ihrer niedrigen Heirat. Aber auch mir war nicht ganz wohl zumute. Ich wusste nicht,
wie ich ihr von meinen Gefühlen meiner Mutter gegenüber erzählen

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