Seidenfächer
entehrst dieses Haus mit deinem Benehmen«, sagte sie. »Es ist mehr als schändlich.«
»Mehr als schändlich«, murmelte ich leise, denn mein stilles Echo würde sie nur noch mehr reizen. Dann packte ich sie am
Arm und riss ihr Gesicht nach unten, so dass wir auf gleicher Höhe waren. Ihr Stock fiel klappernd zu Boden.
Von unten rief meine Tante herauf: »Ist alles in Ordnung, Schwester?«
Mama gab leichthin zurück: »Ja, bring einfach den Tee, wenn er fertig ist.«
Ich zitterte am ganzen Körper, weil ich mich kaum noch beherrschen konnte. Mama spürte das und lächelte wissend, wie es ihre Art war. Ich grub die Nägel in ihr Fleisch, so wie sie es vorhin bei mir gemacht hatte. Ich sprach ganz leise, damit niemand im Haus hören konnte, was ich sagte. »Du bist eine Lügnerin. Du – und alle in diesem Haushalt -, ihr habt mich getäuscht. Habt ihr gedacht, ich würde das mit Schneerose nie herausfinden?«
»Wir haben dir aus Freundlichkeit ihr gegenüber nichts erzählt«, jammerte sie. »Wir lieben Schneerose. Sie war hier glücklich. Weshalb hätten wir dein Bild von ihr ändern sollen?«
»Es hätte überhaupt nichts geändert. Sie ist meine laotong .«
Meine Mutter reckte stur das Kinn vor und änderte die Taktik. »Alles, was wir getan haben, war nur zu deinem Nutzen.«
Ich grub die Nägel noch tiefer hinein. »Zu eurem Nutzen, meinst du.«
Ich wusste, wie weh ihr mein Griff tun musste, doch statt das Gesicht zu verziehen, machte sie eine freundliche, versöhnliche Miene. Ich wusste, sie würde versuchen, sich zu rechtfertigen, aber ich wäre niemals darauf gekommen, welche Ausrede sie sich ausdenken würde.
»Deine Beziehung zu Schneerose und deine vollkommenen Füße haben nicht nur für dich, sondern auch für deine Cousine eine gute Heirat bedeutet. Schöner Mond sollte glücklich sein.«
Dieses Ablenkungsmanöver vom eigentlichen Grund meiner Empörung machte mich rasend, aber ich bewahrte die Fassung.
»Schöner Mond ist vor zwei Jahren gestorben.« Meine Stimme
klang heiser. »Schneerose ist vor zehn Jahren in dieses Haus gekommen. Aber du hast nie Zeit gefunden, mir von ihren Lebensumständen zu erzählen.«
»Schöner Mond …«
»Es geht jetzt nicht um Schöner Mond!«
»Du hast sie mit nach draußen genommen. Wenn du das nicht getan hättest, wäre sie heute noch hier. Du hast deiner Tante das Herz gebrochen.«
Mit dieser Verdrehung der Tatsachen hätte ich bei meiner Affenmutter rechnen sollen. Dennoch war diese Anschuldigung ungeheuerlich und unfassbar grausam. Aber was blieb mir übrig? Als Tochter schuldete ich meinen Eltern Respekt. Ich musste mich noch so lange auf meine Familie verlassen, bis ich schwanger wurde und wegzog. Wie konnte ein Mädchen, das im Zeichen des Pferdes geboren war, jemals im Kampf gegen den verschlagenen Affen triumphieren?
Meine Mutter muss ihren Vorteil gespürt haben, denn sie fuhr fort. »Eine gute Tochter würde mir danken …«
»Wofür?«
»Ich habe dir das Leben geschenkt, das ich nie haben konnte, und zwar deshalb.« Sie deutete auf ihre missgebildeten Füße. »Ich habe dir die Füße gewickelt und gebunden, und nun hast du die Belohnung dafür bekommen.«
Ihre Worte riefen mir wieder die Stunden in Erinnerung, als ich die schlimmsten Schmerzen während des Füßebindens aushalten musste und sie dieses Versprechen häufig wiederholt hatte. Mit Bestürzung wurde mir nun klar, dass sie während dieser schrecklichen Zeit damals gar keine Mutterliebe gezeigt hatte. Auf irgendeine verdrehte Weise hatte der Schmerz, den sie mir auferlegt hatte, mehr mit ihren egoistischen Wünschen und Bedürfnissen zu tun. Ich war wütend und enttäuscht …
»Ich werde nie mehr irgendeine Freundlichkeit von dir erwarten«, presste ich hervor und ließ ihren Arm angewidert los.
»Aber denke an eines. Dank deiner Bemühungen werde ich eines Tages die Macht haben zu beeinflussen, was mit dieser Familie geschieht. Ich werde eine gute und wohltätige Frau sein, aber glaube nur ja nicht, ich würde jemals vergessen, was du getan hast.«
Meine Mutter langte nach ihrem Stock und stützte sich darauf. »Ich bedaure die Familie Lu, weil sie dich aufnehmen musste. Der Tag, an dem du uns verlässt, wird der segensreichste in meinem Leben sein. Bis es soweit ist, lass bloß diesen Unsinn sein.«
»Sonst? Gibst du mir nichts mehr zu essen?«
Mama sah mich an, als wäre ich eine Fremde, dann wandte sie sich um und humpelte zurück zu ihrem Stuhl. Als Tante mit dem Tee
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