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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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war, packte ich unseren Seidenfächer aus und öffnete ihn. Ein Drittel der Falten enthielt mittlerweile Schriftzeichen, die an Augenblicke erinnerten, die etwas Besonderes für uns waren. Das kam in etwa hin, denn wir hatten mehr als ein Drittel dessen hinter uns, was für Frauen in unserem Landkreis als ein langes Leben galt. Ich sah mir an, was in unserem Leben bis zu diesem Moment
alles passiert war. So viel Glück. So viel Traurigkeit. So viel Vertrautheit. Ich kam zu dem letzten Eintrag, wo Schneerose von meiner Heirat in die Familie Lu geschrieben hatte. Er nahm eine Falte des Fächers zur Hälfte ein. Ich mischte Tusche und holte meinen feinsten Pinsel hervor. Gleich unter ihre guten Wünsche für mich zog ich sorgfältig neue Striche: »Ein Phönixweibchen erhebt sich über einen gewöhnlichen Hahn. Es spürt den Wind um sich herum. Nichts wird es an den Boden fesseln.« Erst jetzt, wo ich allein war und diese Worte vor mir sah, begriff ich endlich die Wahrheit über Schneeroses Schicksal. In die Girlande oben malte ich eine verwelkte Blüte, aus der kleine Tränen tropften. Ich wartete, bis die Tusche getrocknet war.
    Dann schloss ich den Fächer.

DER GUPOTEMPEL
     
     
    M eine Eltern freuten sich, mich zu sehen, als ich zurückkehrte. Noch mehr freuten sie sich über die süßen Kuchen, die meine Schwiegereltern als Geschenk mitgeschickt hatten. Doch wenn ich ehrlich bin, empfand ich keine große Wiedersehensfreude. Sie hatten mich mehr als zehn Jahre lang angelogen, und ich brannte innerlich. Ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das alle unangenehmen Empfindungen vom Flusswasser fortspülen lassen konnte. Ich hätte meiner Familie gerne Vorwürfe gemacht, aber zu meinem eigenen Wohl musste ich noch den Regeln des Respekts gegenüber den Eltern folgen. Also rebellierte ich im Kleinen, indem ich mich innerlich und äußerlich abgrenzte, so gut es ging.
    Zunächst schien meine Familie die Veränderung in mir gar nicht zu bemerken. Sie benahmen sich ganz wie sonst auch, und ich bemühte mich, ihre Annäherungen möglichst abzulehnen. Meine Mutter wollte meine Geschlechtsteile untersuchen, aber ich verweigerte es ihr und tat so, als schämte ich mich. Meine Tante fragte nach unserem Liebesspiel, aber ich wandte mich ab und gab vor, ich sei zu schüchtern. Mein Vater wollte meine Hand halten, aber ich deutete an, dass dieses Zeichen von Zuneigung nun, da ich eine verheiratete Frau war, nicht mehr angemessen war. Älterer Bruder suchte meine Gesellschaft, um Späße zu machen und Geschichten zu erzählen; ich sagte ihm, er solle das mit seiner Frau machen. Zweiter Bruder sah nur mein Gesicht und hielt lieber Abstand; ich unternahm nichts dagegen und erklärte lediglich, wenn er einmal eine Frau hätte,
würde er das schon verstehen. Nur Onkel – mit seinem verdutzten Blick und dem nervösen Gehoppel – entlockte mir ein wenig Mitleid, aber ich vertraute mich ihm nicht an. Ich verrichtete meine Hausarbeit. Ich werkelte still im oberen Gemach vor mich hin. Ich war höflich. Ich hielt den Mund, denn bis auf meinen jüngeren Bruder waren alle älter als ich. Sogar als verheiratete Frau war ich nicht in der Position, ihnen Vorhaltungen machen zu dürfen.
    Aber ich konnte mich nicht lange so benehmen, ohne dass es jemandem auffiel. Für Mama war mein Betragen – obwohl ich in jeder Hinsicht höflich war – völlig unannehmbar. In unserem kleinen Haushalt lebten zu viele Menschen, als dass eine einzelne Person so viel Raum einnehmen konnte, und alles nur wegen ihrer Kleinlichkeit, wie meine Mutter es sah.
    Ich war fünf Tage zu Hause, als Mama Tante bat, unten Tee holen zu gehen. Sobald Tante weg war, kam meine Mutter zu mir herüber, lehnte ihren Stock an den Tisch, wo ich saß, packte mich am Arm und grub ihre Nägel in mein Fleisch.
    »Du hältst dich jetzt wohl für zu gut für uns!« Wie erwartet fauchte sie mich an. »Du hältst dich wohl für etwas Besseres, weil du mit dem Sohn eines Dorfoberhaupts ins Bett gehst!«
    Ich sah ihr ins Gesicht. Ich hatte mich ihr gegenüber niemals respektlos benommen. Nun war mir meine Wut anzusehen. Sie hielt meinem Blick stand und glaubte, sie könnte mich mit ihren kalten Augen schwächen, aber ich wandte den Blick nicht ab. Dann ließ sie in einer einzigen schnellen Bewegung meinen Arm los, holte aus und schlug mir fest ins Gesicht. Mein Kopf wurde zur Seite gerissen und fiel wieder zurück. Wieder schaute ich ihr ins Gesicht, was Mama nur noch mehr ärgerte.
    »Du

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