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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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unbemerkt nach draußen zu gelangen.
    Zum ersten Mal erblickte ich eine japanische Stadt. Sie hatte wenig mit der Pracht alter Städte zu tun, wie ich sie aus Deutschland oder Polen vor Kriegsausbruch kannte. Hier waren die Häuser aus Holz, niedrig, mit breiten Dachrinnen. Dürftig gezimmerte Buden beherbergten winzige, armselige Verkaufs-stände. Daneben gab es Gebäude aus Beton, großen Kästen ähnlich, zweckmäßig und sehr häßlich. Rauchschwaden aus Fabrikschornsteinen machten die Luft stickig. Die Stadt war voller Lärm; überall wurde gesprengt, gebohrt und gehämmert.
    Fast an jeder Straßenecke brüllte ein öffentlicher Lautsprecher.
    Von Zeit zu Zeit wurde die Luft von einem fürchterlichen Heulen durchschnitten; ich erschrak fast zu Tode und dachte an Luftalarm, doch es war lediglich die Feuerwehr, die mit voller Geschwindigkeit angerumpelt kam. Die Menschen auf der Straße starrten mich an, vorwiegend die Kinder, aber aus ihren Augen sprach keine Feindschaft, nur Scheu und Neugierde. Ich ging wie eine Schlafwandlerin. Die Strapazen, die Müdigkeit, die chronische Unterernährung ließen mich vor Schwäche taumeln. Ich hielt den Zettel mit den Schriftzeichen in der Hand, er war schon ganz verknittert. Die Japaner besahen sich die Schriftzeichen, merkten, daß ich ihre Sprache nicht verstand und zeigten mir den Weg. Sie streckten dabei nicht den Finger aus, wie es in Europa üblich ist, sondern wiesen mir die Richtung mit der offenen Hand. Wenn ich mich bedankte, verneigten sie sich. Ich verneigte mich auch. Erschöpft, wie ich war, brachte ich kaum die Bewegung zustande. Über eine Stunde schleppte ich mich durch winklige Gassen, in denen es nach Holzkohle, Ruß und gebratenem Fisch roch, bis mich endlich eine alte Frau zu einem Gartentor führte. Ein Schild war dort angebracht, mit ein paar Schriftzeichen, die mit denen auf dem Zettel übereinstimmten. Vom Tor zum Haus ging ein Fußweg; zwischen den großen, holprigen Steinen wuchsen Grasbüschel.
    Das Haus war ziemlich groß, gut erhalten. Ich klopfte an die Tür; ein junger Mann im weißen Kittel öffnete; er besah sich zögernd den Zettel, den ich ihm unter die Nase hielt. Schließ-
    lich nickte er und führte mich in ein Wartezimmer, das mit ärmlich gekleideten Frauen und Kindern bis zum letzten Platz belegt war. Die Kleinen waren ebenso still wie die Flüchtlings-kinder. Wenn ein Baby schrie, entblößte die Mutter einfach ihre Brust und gab dem Kleinen zu trinken. Die Frauen starrten mich erschrocken an; einige rührten sich nicht, andere nickten mir zu, ernst und befangen. Ich grüßte ebenso scheu zurück; da wurde der Ausdruck ihrer Augen vertrauensvoller. Ein paar Frauen knieten auf dem Boden. Ich setzte mich zu ihnen. Dann und wann ging eine Tür auf, eine junge Krankenschwester rief die Patienten. Vor Müdigkeit sah ich sie nur verschwommen.
    Ich schloß die Augen; als mein Kopf nach hinten gegen die Wand fiel, schlief ich bereits. Auf einmal fühlte ich mich leicht an der Schulter geschüttelt. Ich fuhr zusammen, richtete mich auf. Mein Nacken war steif und schmerzte. Wie lange saß ich schon da? Ein paar Stunden, vermutlich. Das Konsultations-zimmer war leer; alle Patientinnen waren gegangen. Vor mir, auf dem Boden, kniete die junge Krankenschwester. Ich blinzelte benommen. Der Schleier vor meinen Pupillen klärte sich, ich sah sie deutlicher. Ich hatte ein etwa gleichaltriges Mädchen vor mir, mit weichem, blauschwarzem Haar. Ihr Gesicht war oval und sanft; die Augen, von langen Wimpern überschattet, zeigten um die Iris einen zartblauen Schimmer. Die Brauen waren wie Federn, schön und klar, am unteren Ende flaumig.
    Sie hatte eine ausdrucksvolle Nase und einen Mund, dessen geschweifte Lippen leicht vortraten. Sie blickte mich ernst und aufmerksam an; ich merkte, daß sie schüchtern war und das zu verbergen versuchte.
    Sie sprach Japanisch zu mir. Die Worte formten sich klang-voll und deutlich. Ich schüttelte hilflos den Kopf und antwortete auf deutsch:
    »Es tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.«
    Sie stellte eine weitere Frage. Ich glaubte, das Wort
    »deutsch« herauszuhören, nickte lebhaft und zeigte ihr Frau Sugiharas Zettel. Sie las ihn, wobei sie die Augenbrauen leicht zusammenzog. Ich bemühte mich, ihr die Situation zu erklären, doch es war augenfällig, daß sie mich nicht verstand. Sie sagte etwas, das wie eine Entschuldigung klang, erhob sich leichtfü-
    ßig und verschwand. Ich rieb mir den Nacken; die Müdigkeit

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