Seidentanz
gelebt.
Trotzdem schlief ich schlecht, sah wieder komplizierte Formen und Farbmuster wie unscharfe Vergrößerungen. Sinnlose Bilder schwebten ganz dicht hinter dem Rand der Erinnerung, machten mich nervös und weckten mich auf. Ich widerstand der Versuchung, eine Schlaftablette zu schlucken. Schluß mit dem Zeug! Erst in den Morgenstunden schlief ich eine Weile. Es war ein natürlicher Schlaf, und als ich erwachte, fühlte ich mich ausgeruht.
Beim Frühstück fragte ich Naomi, ob sie kürzlich bei ihrem Onkel gewesen sei. Sie sagte, ja, zweimal sogar; beide Male hatten sie von Keita gesprochen. Ich hob erwartungsvoll die Brauen. Über den Becher, aus dem sie Tee trank, erwiderte sie ausdruckslos meinen Blick. Ihr Gesicht war herb und verschlossen. Sie sah mich an und sah durch mich hindurch. Sie lehnte es ab, daß sich jemand an ihr inneres Selbst heranmach-te, und sie hatte sogar recht damit, mir hätte das ebensowenig gefallen. Doch ihre Hand, die den Becher hielt, zitterte so stark, daß sie ihn auf den Tisch stellen mußte. Was hatte der Priester ihr wohl gesagt?
Ich glaube nicht, daß ich deine Geschichte richtig verstanden habe, Naomi. Und ich hätte auch nicht gedacht, daß sie so in mir weiterleben würde, in Stimmen, Empfindungen, diffusen Bildern. Die Phantasie gaukelt vor, die Wirklichkeit antwortet.
Vielleicht ist die Geschichte ganz anders, als du sie mir erzählt hast. Aber ich frage nichts mehr. Ich kann dich nicht fragen, ohne dich zu verletzen.
Meine Unruhe wuchs, je näher das Treffen mit Daisuke kam.
Ich war froh, daß Kunio da war. Denn auf dem Weg zum Schrein erfaßte mich ein neuer Schwindel. Meine Knie zitterten ganz von selbst. Ich hielt mich an Kunio fest, tastete mich vorsichtig mit den Füßen weiter. Ich war plötzlich so müde, daß ich die Augen schloß. Er drückte meinen Arm sehr fest.
»Ruth, du solltest dir nicht zuviel zumuten.«
Ich blinzelte, schüttelte den Kopf.
»Ich muß weitergehen.«
»Du bist noch nicht ganz wiederhergestellt.«
Ich sah mich selbst wie in einer komischen Szene: Kunio, das ist jetzt deine Rolle bei mir, mich festzuhalten, bevor ich mich auf den Allerwertesten setzte. Und wie sollte ich in diesem Zustand auf einer Bühne stehen und tanzen?
»Macht nichts, ich bin nur etwas aufgeregt.«
Gibt es dafür einen Grund, Ruth? Es gibt sogar mehrere, mein Kind, würde Lea sagen. Und wir wollen der Sache mal nachspüren, ehe du dir noch etwas Dümmeres ausdenkst.
Ich sagte: »Ich möchte das alles lieber hinter mir haben.«
Der Hohepriester erwartete uns in seinem Büro. Kunio empfing er so freudig, als habe er ihn erst gestern gesehen. Sein scharfer Blick sprühte kurz über ihn hinweg, schweifte zu mir, um sogleich wieder Kunio anzusehen. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel. »Viele Jahre sind vergangen, Kunio-San. Aber du bist der gleiche geblieben.«
Kunio bewegte etwas befangen die Schultern.
»Meine Familie dachte, daß ich ihr viel Kopfzerbrechen machen würde, nach so vielen Jahren in Amerika.«
Das schwarze Feuer tanzte in den Augen des Priesters.
»Du hast ein anderes Benehmen, nicht eine andere Denkart.
Sonst wärst du jetzt nicht hier.«
Er wandte sich mir zu. Die Art, wie er mich begrüßte, verwirrte mich, entsprach seine tiefe, feierliche Verbeugung doch genau jener, die er im Heiligtum auszuführen pflegte. Sein Gesicht blieb ernst dabei. Seine Stirn war blaß, und über den kohleschwarzen Augen hingen schwer die Lider. Er bot uns Sitze an. Ein kleines Schweigen folgte. Daisuke lächelte wieder, aber in seinem Lächeln zeigte sich Überdruß. Die Schiebetür zum Garten stand halb offen. Die Sonne sank; Büsche und Bäume schimmerten wie Perlmutt. Frieden war hier. Nach einer Weile erkundigte sich der Priester nach meinem Befinden. Ich dankte ihm für die Orangen – die besten, die ich je gekostet hatte, sagte ich. Er zwinkerte mir zu.
»Sie sind aus unserem Garten. Wir haben nur wenige Früch-te, ein paar Dutzend vielleicht, aber sie sind wirklich groß. Ich habe die reifsten für dich ausgesucht.«
Er fragte Kunio, wie es seinem Vater und der Ehrwürdigen Großmutter ginge. Während wir sprachen, kam der scheue junge Priester, brachte Tee und zog sich zurück, wobei er sich auf der Schwelle verneigte. Geräuschlos schloß er die Tür hinter sich. Im Sonnenlicht flatterten Krähen. Ihre heiseren Rufe waren wie die Stimmen der Bäume, in deren Ästen sie hausten.
Daisuke bot uns eine Zigarette an, die wir ablehnten. Er bat uns um
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