Seidentanz
Personen bedingt, nicht durch die Umstände.«
»Einverstanden. Du machst etwas daraus oder läßt es bleiben.«
»Ich bin froh, daß diese Sache mit dem Onjôkan jetzt klar ist.« Kunio lächelte. »Ehrlich gesagt, war ich etwas nervös.
Jetzt hat uns Chiyo Sakamoto ihren Segen gegeben. Weißt du, die Dame ist sehr eigenwillig. Offenbar hat sie dich unwiderstehlich gefunden.«
Ich trank langsam einen Schluck und sah ihm in die Augen.
»Ein Glück, ne?«
Er nickte, plötzlich wieder sehr ernst.
»Ein Glück auch für mich, ja.«
46. Kapitel
K unio unterrichtete nur noch drei Stunden am Tag. Die rest-liche Zeit verbrachte er bei seinem Vater in der Werkstatt. Ab dem ersten Januar hatte er gekündigt und sich Chiyo Sakamoto für einen zusätzlichen Tag als Volontär zur Verfügung gestellt.
Die Arbeit mit den Kleinen machte ihm Spaß, er brauchte das als Ausgleich, und auf Geld war er nicht angewiesen. Wir beide
– als Einzelgänger – waren uns so nahegekommen, wie überhaupt möglich; wir lebten ein klares, unverwischtes Traumbild.
Die unzähligen Paradoxe der Selbsttäuschung bewegten uns nicht länger. Unsere Liebe konnte nicht mehr in Frage gestellt werden – und noch viel weniger versagen. Vielleicht waren wir nicht sehr praktisch, was alltägliche Dinge betraf; das Gefühl für Ordnung oder Abstraktion lag uns wenig. Dafür lebten wir still in einem Zustand der Erfülltheit, des Kräftesammelns. Und selbst in unseren Verschiedenheiten sahen wir hoffnungsvolle Zeichen.
Training gehörte zu meiner täglichen Routine; ich achtete stets darauf, einen festgelegten Zeitplan einzuhalten. In Kyoto hatte ich wenig Platz gehabt, weil Naomis Studio so winzig war. Immerhin hatte ich gelernt, auf beschränktem Raum möglichst intensive Bewegungsabläufe auszuführen. In Kunios Wohnung konnte ich das Training besser gestalten, Tanzse-quenzen und neue Kombinationen ausprobieren. Auf Hüpf- und Laufsprünge allerdings verzichtete ich, mit Rücksicht auf die beiden alten Leute im Erdgeschoß.
Ich übte in Strumpfhosen und Trikot, bei offener Fenstertür, als der Briefträger Post in den Kasten neben dem Tor schob.
Hastig zog ich einen Pullover über, lief die Treppe hinunter.
Eine Minute später hielt ich Leas Brief in den Händen. Mein Atem flog. Langsam und schwerfällig stieg ich die Stufen hinauf. Die Tür schlug hinter mir zu. Ich setzte mich auf ein Kissen, mit untergeschlagenen Beinen, drehte und wendete den Umschlag zwei abscheuliche Minuten lang, bis sich mein Atem beruhigt hatte. Dann öffnete ich den Brief.
»Ich bin kein religiöser Mensch«, schrieb Lea, »weil ich früh feststellen mußte, daß religiöse Menschen nicht besser als andere sind. Ich bleibe bei dem, was mir Amos damals klarge-macht hat: Es gibt auf dieser Welt nur eine einzige moralische Grundregel: Niemandem Leid zufügen, niemandem schaden.
Das ist alles, jedes Kind kann das lernen. Der Rest ist Dekoration, und das Leben ist bunt genug.
Als dein Brief eintraf, war ich in Lyon, wo Twyla Tharp ga-stierte. Dann ging ich für drei Wochen nach Paris, wo ich mitten im schönsten Urlaubswetter Stunden im Tanzarchiv der Opéra de Paris verbrachte. Dabei entdeckte ich einige wichtige Aufzeichnungen von Emile Jacques-Dalcroze aus seiner St.
Petersburger Zeit sowie das Fragment einer unveröffentlichten Partitur von Strawinsky, nur ein paar Sätze zwar, aber in ihnen zeigt sich bereits die Rohfassung von ›Petrouchka‹. Faszinierend, wirklich! Du siehst schon, my dear, ich schreibe mir einen Stuß zusammen, weil ich so verstört bin. Zur Sache also.
Ich kehrte nach Nizza zurück, wo ich deinen Brief fand. Es war ein Schock, ich kann es nicht anders beschreiben. Ich hätte weinen mögen. Ich hätte tanzen mögen. Ich hätte sterben und doch leben mögen. Geburt und Tod, Liebe und Leid, Trauer und Freude, alles war in einem großen Gefühl vereint, und ich fühlte mich unendlich glücklich. Ich sah Hanako in Gedanken vor mir, mit der Libelle auf ihrer versengten Hand, erkannte sie in meiner Erinnerung so deutlich, als wäre ich nachts zuvor neben ihr eingeschlafen. Sie hat Iris und mir die Treue gehalten, fünfzig Jahre lang. Ihr Bild ist stets in mir gewesen, in meinem Herzen, unvergessen. Mein Tagebuch, damals, ich hatte es ihr anvertraut, wie man einen Liebesbrief verbrennt, aus Furcht, er könnte entdeckt werden. Wir sind so schrecklich nach außen verlagert, daß unsere Geheimnisse gehütet werden müssen – von Menschen, die
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