Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
stärker sind.
    Wohlgemerkt, ich hätte dir sofort zurückschreiben sollen.
    Sorry, ich konnte nicht. Ich brauchte Zeit, um mich zu beruhigen. Vergeblich, wie du siehst. Die Dinge lassen sich auf hun-derterlei Arten sagen, ich bringe nur kitschige, sentimentale und pathetische Formulierungen zustande. Was hast du nur für eine Mutter! Nimm es mir nicht übel, es wird nicht wieder vorkommen.
    Du fragst mich, was aus Yukiko und Chiune Sugihara geworden ist. Nun, das kann ich dir sagen. Die Wirrnisse des Krieges verschlugen die Familie zuerst nach Berlin, dann nach Prag und Bukarest und schließlich in ein sowjetisches Arbeitslager. Krank und notleidend kehrte Sugihara 1947 nach Tokio zurück, wo man ihn eisig empfing. Er lebte noch vierundzwan-zig Jahre lang, in aller Stille. Er war ein Held. Aber weder Sieger noch Besiegte sahen einen Nutzen darin, daß sein Name bekannt wurde. Die Scheinheiligkeit der Nationen verlangt, Ungehorsam zu bestrafen oder totzuschweigen. 1986 starb er.
    Ein Jahr vor seinem Tod wurde er in Israel als ›Gerechter der Nationen‹ mit dem Yad-Vashem-Preis geehrt. In Jerusalem hat man ihm ein Denkmal errichtet, eine Stiftung in New York trägt seinen Namen. Und als Litauen 1990 seine Unabhängigkeit erlangte, wurde eine Straße nach ihm benannt. In Japan selbst erfolgte seine Rehabilitation posthum. Und Yukiko hat ein Buch über ihn geschrieben.
    ›Und ich wußte von alldem nichts!‹ wirst du sagen. Tja, mein Kind, das gehörte dazu. Zu meiner Neurose, meine ich. Ich mogelte zeitlebens, wenn von der Vergangenheit die Rede war.
    Jetzt weißt du auch, warum. Aber Amos war immer da und sah zu, wenn ich tanzte. Jetzt hat er wahrscheinlich weniger Freude an der fetten alten Ziege, die ich geworden bin. Er – er ist immer noch wunderschön, wie früher.
    Immerhin habe ich den Brief jetzt fertig und fühle mich besser. Erleichtert, würde ich sagen. Ob ich Hanako treffen will?
    Dumme Frage! Ich komme, sobald die Sache hier gelaufen ist.
    Im Augenblick kann ich Agnes nicht im Stich lassen. Es wird März oder April werden, nicht später. Inzwischen werde ich mir einen japanischen Sprachführer besorgen. Hanako und ich haben fünfzig Jahre gewartet; in unserem Alter lernt man die Vorfreude schätzen. Was deine persönlichen Probleme betrifft, Hanakos Enkel scheint sich mit deinen Besonderheiten abzu-finden – deiner Neigung zum Paradoxen, deiner Unbesonnen-heit, deiner Eigenbrötelei. Das spricht für ihn. Viele Männer sind Spielverderber oder verlangen Konzessionen, die jede vernünftige Frau später bereut. Andere – noch schlimmer –
    sitzen da und lassen sich bedienen. Wieder andere verwechseln Ukase mit beruflicher Kompetenz und machen zu Hause weiter. Solche Männer sind pure Zeitverschwendung. Wenn er aber
    – wie du es andeutest – von Hanako geformt und erzogen wurde, wird er die Welt durch sie entdeckt haben und nicht mit Tricks aus der Mottenkiste auftrumpfen. Tu also, was du für richtig hältst. Vielleicht erfüllt sich hiermit jene Zweckmäßigkeit, von der wir nichts wissen. Ach ja, noch etwas: Die Kette gehört selbstverständlich dir. Trage sie zum Gedenken an Iris.
    P.S. Hast du jetzt endlich ihr Grab besucht?«
    »Was für eine schöne Schrift Lea hat!«
    Hanako setzte sich die große Hornbrille zurecht und studierte den Brief sehr eingehend.
    »Sie hat in Israel Hebräisch gelernt«, erklärte ich. »Zuerst aus ästhetischer Begeisterung. Sie fand die Schrift so schön! Es heißt, daß die zweiundzwanzig Schriftzeichen den Windungen der Gehirnrinden nachempfunden wurden. Wer Hebräisch lernt, begreift gleichzeitig den Mechanismus des Geistes. So sagt man wenigstens.«
    Hanako nickte gedankenverloren.
    »Ach ja, der Geist! Wie entsteht er, wohin entwickelt er sich? Wie kommt es, daß Ereignisse, die irgendwo in unserem Gedächtnis gespeichert sind, plötzlich wieder in Erinnerung kommen? Ständig stehen Ereignisse der Vergangenheit der Gegenwart zur Verfügung, das ist sehr rätselhaft und großartig, ne?«
    Ich blickte in Hanakos Augen, die nicht schwarz, sondern rauchgrau waren, und entdeckte darin den Lerneifer, der sich oft bei älteren Menschen zeigt, deren Lebensjahre gezählt sind.
    »Würdest du mir Hebräisch beibringen?«
    Die Frage verwunderte mich kaum. Sie paßte zu Hanako. In ihr irrlichterte die Freude an der Entdeckung, die Lust am Experimentieren. Hanako war nicht weltmüde. Sie wollte jedesmal von vorn beginnen, etwas lernen, Neues versuchen.
    »Es tut mir

Weitere Kostenlose Bücher