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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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messen?«
    »Schlafen«, murmelte ich.
    »Na dann…«
    »Laß sie doch in Ruhe, wenn sie nicht will«, hörte ich Pierre mit spürbarer Ungeduld sagen. Er löschte das Licht. Ich merkte kaum wie sie leise die Tür schlossen und die Treppe hinunter davongingen. Ich war schon weit weg in einem Traum. Ich schlief und träumte von meiner Großmutter. Ich hatte nur ein einziges Bild von ihr gesehen, alt und vergilbt. Auf dem Bild hielt Iris ein kleines Mädchen an der Hand, das vielleicht sieben Jahre alt sein mochte: ihr Töchterchen Lea. Iris trug ein wadenlanges weißes Kleid und Schuhe mit Schnallen. Ihr blondes Haar war geflochten und kranzartig aufgesteckt. »Gretchen-frisur« nannte man diese Haartracht. Das Gesicht war oval und klar, Nase und Kinn waren gerade gemeißelt. Sie lächelte mädchenhaft und offen; ihre ganze Haltung drückte Selbstvertrauen und Fröhlichkeit aus. Das Kind an ihrer Hand machte ein ernstes Gesicht, blickte neugierig zum Fotografen, der vermutlich ihr Vater war.
    Das war das Bild, das ich kannte; in meinem Traum jedoch hatte Iris ihre Flechten gelöst. Sie trug nur ein Unterkleid und strich mit einem Kamm durch ihr Haar. Es war leicht gewellt, braungold wie Herbstlaub. Eine geschmeidige Fülle, die ihr bis zu den Hüften hinabfiel, so daß mir die Illustration eines alten Märchenbuches in den Sinn kam: Die eingesperrte Königstoch-ter lehnte sich aus einem Turmfenster; ihr Haar fiel die Mauer entlang, und der Prinz hielt sich an diesem Haar fest, um zu seiner Geliebten zu gelangen.
    »Wenn wir von den Toten träumen, gibt es Regen«, pflegte Lea zu sagen. Im Schlaf hörte ich Tropfen an die Scheiben prasseln, und irgendwo über meinem Kopf war das monoton-rauschende Geräusch einer Dachrinne. Das Tosen der Windbö-
    en, das Klappern von Fensterläden weckten mich schließlich.
    Ich öffnete die Augen, drehte den Kopf zur Seite. Im Licht einer Straßenampel sah ich eine dunkle Gestalt am Fenster.
    Ganz ruhig stand sie da und blickte auf mich herab. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.
    »Naomi?« fragte ich.
    Sie nickte, trat näher. Sie trug einen Trenchcoat. Ihr Haar, im Nacken zusammengebunden, war unter den hochgeschlagenen Mantelkragen gesteckt. Ich streckte den Arm aus, knipste die Nachttischlampe an und rieb mir die Augen. Sie setzte sich auf den Bettrand, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.
    Ihr Gesicht sah jung und verletzlich aus. Die Haut, mit Creme eingerieben, glänzte matt.
    »Bist du schon lange da?« fragte ich.
    »Seit ein paar Minuten.«
    »Wo sind die Männer?«
    »In der Bar.«
    Auf dem Kopfkissenbezug waren rote Flecken. Blut? Nein.
    Die Schwellung an meiner Stirn schmerzte kaum noch. Die Schminke hatte abgefärbt, weiter nichts.
    »Ich muß mich waschen. Ich kam noch nicht dazu.«
    »Wie fühlst du dich?« fragte Naomi.
    »Ich habe einen Krampf im Arm.«
    »Hast du keinen Hunger?«
    »Doch.«
    Ich schüttelte mein Haar, fuhr mit gespreizten Fingern hinein, um es zu lockern. Ein paar vertrocknete Efeublätter fielen heraus. Ich fegte sie mit der Handfläche vom Bett hinunter auf den Teppich.
    »Es tut mir leid«, sagte ich schließlich. »Es ist das erste Mal, daß mir das passiert.«
    »Du kannst ja nichts dafür.«
    »Was hältst du denn davon?«
    »Ich?«
    »Ja, ich frage dich ja gerade.«
    Sie schaute mich von der Seite an. Ich konnte auf ihrem Gesicht kein Erstaunen erkennen, außer vielleicht einen kaum angedeuteten Ausdruck von Schalk.
    »Es kommt selten vor. Und nie auf der Bühne. Das Publikum hat gezahlt, um uns tanzen zu sehen.«
    »Aber nicht hier. Wir haben es gratis getan.«
    »Ja, das war der Unterschied. Hier konntest du es dir leisten.«
    Wir lächelten beide gleichzeitig – und wurden im selben Atemzug wieder ernst. Naomi saß da, gleichmütig und kerzengerade. Im dämmrigen Schatten wirkten ihre Augen tief dunkel.
    Schließlich brach sie das Schweigen.
    »Ich reise morgen ab. In zwei Tagen tanze ich in Turin. Die Gage ist miserabel. Aber der Regieassistent ist ein Freund, sonst wäre ich nicht gegangen.«
    »Und dann?«
    »Ich habe einen Workshop in Budapest. Drei Wochen lang.
    Im April tanze ich in Aix-les-Bains und Grenoble. Anfang Mai gastiere ich in Luzern, für eine Vorstellung. Dann gehe ich nach Japan zurück. Und wie steht es mit dir?«
    »Wir tanzen in Salzburg und Innsbruck. Dann in Mulhouse, Basel und Ascona. Daneben arbeiten wir im ›Wacholderhaus‹.
    Für den Herbst inszeniere ich wieder eine Choreographie.«
    Sie warf

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