Seidentanz
entdeckt?‹
Ich antwortete: ›Alles sieht anders aus, aber alles ist gleich.‹
Meine Großmutter lachte. ›Was tut dieses Kind in der Schule?‹ fragte sie meine Mutter. Dann nahm sie mich bei der Hand.
›Komm, gehen wir in den Wald. Laß uns zusammen die Gräser ansehen!‹
Meine Mutter meinte, daß sie mich verzog. Aber keiner widersprach ihr, mein Vater schon gar nicht. «
Er hielt kurz inne.
»Meine Mutter starb vor einem Jahr. Krebs«, erläuterte er kurz, als Antwort auf meine unausgesprochene Frage. Er wurde jetzt nachdenklich, sein Gesicht war auf besondere Art traurig.
Ich wandte die Augen ab und sagte:
»Meine Großmutter Iris ist in Kobe gestorben.«
Er hörte zu, das war gut, es brachte ihn auf andere Gedanken.
»Wie kam das?«
»Sie war eine polnische Jüdin und mußte vor den Nazis fliehen. «
Ich erzählte ihm die Geschichte.
»Einzelheiten weiß ich kaum. Meine Eltern hatten eine irri-tierende Unfähigkeit, über diese Dinge zu reden. Als ob es sich nicht gehörte.«
»Die meisten Menschen denken ungern an schwere Zeiten zurück.«
»Sie schützten mich in unsinniger Weise vor dem Leben, früher empfand ich es als Beleidigung, heute verstehe ich sie besser. Den Namen Hanako kannte ich natürlich. Aber Lea wollte mir nie sagen, warum sie noch heute sooft an sie denkt.«
»Hanako, so heißt auch meine Großmutter«, erwiderte er.
»Dieser Name war in den vierziger Jahren sehr verbreitet. Ihr Vater was übrigens Arzt und ihre Mutter in der Geburtshilfe ausgebildet. Ob sie allerdings eine eigene Praxis hatte, weiß ich nicht, es war damals sehr unüblich für eine Frau. Ich kann Hanako ja mal fragen, und gleichzeitig auch nach dem Vornamen ihrer Mutter. Aber die Familie hat immer in Nagasaki gewohnt, in Kobe. Nein, davon ist mir überhaupt nichts bekannt.«
»Dann ist sie es nicht«, seufzte ich. »Die Mühe kannst du dir sparen.«
»Und was geschah dann?« fragte er.
»Iris wurde auf dem Friedhof für Ausländer beigesetzt. Meine Mutter fuhr nach Amerika. Sie traf dort einen polnischen Studenten wieder und heiratete ihn. Später hat sie vergeblich versucht, ihre japanische Freundin wiederzufinden. Es scheint, daß eine alte Dame manchmal das Grab besucht. Ich will versuchen, etwas über sie zu erfahren. Aber da muß ich mit dem Friedhofswächter reden, und mein Japanisch ist stümperhaft.«
»Vielleicht kann ich dir behilflich sein?«
»Ja, das wäre gut.«
Ich nippte an meinem Sake.
»Dein Vater ist krank, sagtest du. Schlimm?«
Er holte gepreßt Atem.
»Ich denke, daß er sich nie von dem Kummer erholt hat, den er beim Tod meiner Mutter empfand. Seitdem hatte er schon zwei Schlaganfälle.«
»Wer sorgt jetzt für ihn?«
»Meine Großmutter. Und meine Schwester Rie arbeitet nur nur noch halbtags. Sie ist Buchhändlerin, hier in Kyoto. Ich selbst wohne in Nara, ganz in der Nähe. In Japan wird erwartet, daß sich die Kinder um die betagten Eltern kümmern. Mein Vater arbeitet täglich in der Schmiede. Zum Glück hat er zwei Gehilfen, die keine Anfänger mehr sind.«
»Er fertigt Schwerter an? Noch heute?«
Er lehnte sich zurück, stützte sich auf beide Hände auf.
»Schwerter dienten jahrhundertelang der japanischen Krie-gerklasse. Es waren keine Waffen für Feiglinge. Mit einer Schußwaffe kann jeder Idiot umgehen. Die Schwertkämpfer damals – Männer und Frauen – trugen eine Verantwortung. Sie waren von großer Selbstherrlichkeit. Sie konnten es sich leisten, es galt eher als eine Tugend. Sie beherrschten alle feinen Künste, die Teezeremonie und das Blumenstecken, und angesichts des Todes verfaßten sie ein Sterbegedicht. Sie lebten an der Grenze der Wirklichkeit, es machte ihnen nichts aus, über den Nullpunkt zu gehen. Total verrückt, wenn man sich das vorstellt.«
»Und irgendwie bewundernswert.«
»Und irgendwie bewundernswert, ja. Während einer kurzer Zeitspanne in der Geschichte dieser Welt haben sie eine Legende geboren, ein Ideal geschaffen. Eine Verkörperung von Adel, Ehre und Mut. Die Zeiten sind vorbei. Und ich kann nicht einmal sagen ›zum Glück‹. Kriege waren immer abscheulich, jetzt sind sie pervers. Ich meine, weil unsere hehre Gattung sie längst überwunden haben sollte.«
»Du bist ein Idealist, Kunio. Kriege halten die Wirtschaft in Schwung, sichern Arbeitsplätze und dienen der Forschung. Und es gibt keine Kämpfer mehr. Nur Technokraten und Terrori-sten. Globale Vernichtung? Ein Video-Game.«
»Das alles ist hoffnungslos
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