Sein anderes Gesicht
Distanz.
Wortlos öffne ich die Tür. Ich fühle mich leer, weit weg auf einem Stern, wo Johnny und ich miteinander kommuniziert haben. Er blickt mir nach, während ich hinausgehe. Sein Blick ist eisig, es ist der Alltagsblick, der des normalen Mannes, der arbeitet. Ich schließe die Tür hinter mir und schiebe mich an der Wand entlang die Treppe hinunter.
Im Bus rücken die Leute von mir ab. Die Spuren der Schläge auf meinem Gesicht, der kalte Schweiß, der mir am Körper hinunterrinnt, meine angespannten Züge, die Kleider, die ich irgendwie angezogen habe, die offenen Schnürsenkel.
Mein Handgelenk ist auf die doppelte Größe angeschwollen. Ich habe furchtbare Schmerzen, und das Rütteln des Busses macht es nicht gerade besser. Mit zusammengebissenen Zähnen schreie ich innerlich.
Eine Gruppe Jugendlicher mustert mich. Einer von ihnen, mit einer Rappermütze auf dem Kopf, kommt zu mir.
»He Mann, du bist verletzt, Mann.«
Eine Frage? Eine Feststellung? Ich zucke die Schultern.
»Ja.«
»Eine Schlägerei?«
»Ja.«
»Und die anderen Arschlöcher, hast du sie fertig gemacht, die anderen Arschlöcher?«
»Ist das Krankenhaus Saint-Roche noch weit?«
»Noch drei Stationen. Und was ist nun mit den anderen?«
Ich fahre mit der gesunden Hand über meine Kehle, als wolle ich sie durchschneiden. Beeindruckt weicht der Junge zurück und geht zu seiner Gruppe. Als ich aussteige, winken sie mir zu.
Ich bin ein moderner Held. Ein Mörder.
In der Notaufnahme weist man mir einen orangefarbenen Plastikstuhl zu, auf dem ich auf den Dienst habenden Arzt warten soll. Neben mir wiegt eine weinende Mutter ihren Sohn. Sein Kopf blutet, die Augen sind geschlossen. Ein Mann stöhnt und hält sich den Leib. Türen schlagen, Menschen hasten geschäftig vorbei, weiße Kittel eilen über die Gänge, es riecht nach Formalin, Blut und Angst. Die Frau und das Kind verschwinden hinter einer weißen Tür.
Um mir die Zeit zu vertreiben, erkundige ich mich an der Rezeption nach dem Polizeioffizier Derek Prysuski, der am Morgen gegen sieben Uhr eingeliefert worden war. Das junge Mädchen blättert einen Stapel Karteikarten durch und fragt, ob ich mit ihm verwandt sei. Ich antworte ja, in gewisser Weise, wir seien Kollegen.
»Sie sind Polizist?«, ruft sie aus, während sich ihre von blau getuschten Wimpern umrahmten Augen ungläubig weiten.
Ich zwinkere ihr vertraulich zu und flüstere: »Rauschgiftdezernat …«, während ich auf mein Haar und meinen Aufzug deute.
»Ah, ich verstehe .«
Um glaubwürdig zu wirken, füge ich hinzu:
»Ein paar Bolivianer haben mir den Arm gebrochen.«
»Ein gefährlicher Job …«, meint sie.
Ich seufze, als wollte ich sagen: Einer muss ihn ja machen. Sie reicht mir Dereks Karteikarte, und ich überfliege sie schnell, ohne viel zu verstehen. Starke Kohlenoxydvergiftung. Hypertonisches Koma mit Pyramidenbahnzeichen. Isobarer Sauerstoff, hyperbarer Sauerstoff .
»Wird er durchkommen?«
Sie nimmt die Karteikarte zurück und ordnet sie ein.
»Schwer zu sagen, er liegt immer noch im Koma.«
»Wo ist er?«
»Auf der Intensivstation. Zweiter Stock, Flügel B.«
Ich überlasse einem Typen mit blutüberströmtem Gesicht den Platz. Sie nimmt seinen Namen und seine Adresse auf, während er seine Brille mit einer Broschüre über Geschlechtskrankheiten reinigt.
»Bo! Was machst du denn hier, Liebes?«
Diana rauscht in einem rosafarbenen Cocktailkleid herein, eine majestätische Erscheinung. Sie arbeitet in der Nähe des Flughafens. Sie hat sich auf die Imitation prominenter Persönlichkeiten spezialisiert. (Unvorstellbar, wie viele Kerle auf Nancy Reagan scharf waren.) Vor zehn Jahren hat sie sich auf die Prinzessin von Wales verlegt. Die Lastwagenfahrer lieben es, Lady Di in der Kabine ihres Sattelschleppers zu vernaschen. Nach dem tragischen Tod der Prinzessin beschloss Diana, sich einer anderen Persönlichkeit zuzuwenden, aber sie hat sich so sehr mit ihrem Idol identifiziert, dass sie noch keine neue Inkarnation gefunden hat.
Sie wirft mir einen verschwörerischen Blick zu. Ich weiß, dass sie herkommt, um sich Stoff zu besorgen, sie hat einen Deal mit einem Krankenpfleger, der wiederum einen Deal mit einem Assistenzarzt hat.
Der Kerl mit den Magenschmerzen reißt verwundert die Augen auf, als er zwei Meter von sich entfernt die wieder auferstandene Lady Di sieht. Es stimmt, sie achtet sehr auf ihr Äußeres - Frisur, Kostüm, Schminke -, die Männer bekommen was geboten für ihr
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