Sein anderes Gesicht
zucke zusammen. Eine Perücke. Eine Frau. Opfer eines nächtlichen Mordversuchs.
»Lass uns etwas warten, vielleicht erfahren wir ja mehr. Die Jungs von der Kripo kommen bestimmt zurück«, beschließt Diana, die ganz offensichtlich keine Lust hat, wieder an die Arbeit zu gehen.
Eine Krankenschwester holt mich in dem Moment, als der Pastor und sein Gefolge Einzug halten. Das weiße Haar zurückgekämmt, mit blitzender Brille, nähert er sich mit gemessenen, großen Schritten.
In dem kleinen Raum reinigt man meine Wunden, verbindet sie und stellt mir Fragen. Ich antworte nur immer wieder: die Treppe.
Als der Arzt sich die alten und neueren Narben an meinem Körper ansieht, brummt er, scheint nicht zufrieden. Er gipst meinen Arm ein und gibt mir ein Schmerzmittel. Verwundert und beunruhigt stellt er mindestens zehn alte Brüche am ganzen Körper fest. Ob ich deshalb schon bei einem Arzt war? Es sei nicht normal, dass die Knochen so brechen. Ich nicke, als wollte ich sagen: Ja, ja, ich weiß. Ich kann ja schlecht erklären, dass meine Knochen nicht zerbrechlicher sind als die aller anderen, aber auch nicht widerstandsfähiger, vor allem gegenüber den väterlichen »Erziehungsmaßnahmen« in meiner Jugend.
Unter argwöhnischem Kopfschütteln füllt er ein Krankenblatt aus. Ich gebe meine Versicherungsnummer und Lindas Adresse an. Er sucht meinen Blick, doch ich bin Meister im Ausweichen. Meine Augen sind so glasig, dass er den Eindruck haben muss, es mit einer Auster zu tun zu haben. Er fragt, ob ich genug esse, lässt mich tief ein- und ausatmen und bescheinigt mir einen schlechten Allgemeinzustand. Ob ich krank bin. Ob ich einen AidsTest gemacht habe. Ich erkläre ihm, alles sei in bester Ordnung, nur augenblicklich sei ich etwas erschöpft, eine schlechte Phase in meinem bewegten und unregelmäßigen Künstlerleben. Er runzelt die Stirn, dann gibt er es auf.
Meinen frisch eingegipsten Arm in einer Schlinge, durch die Tabletten weitgehend schmerzfrei, mit Vitaminspritzen aufgebaut und einem Rezept in der Tasche, komme ich wieder in die Eingangshalle. Diana eilt auf mich zu.
»Es ist Jesus!«, ruft sie aufgeregt.
»Jesus?«
»Jesus Ortega, du weißt schon, Marlene!«
Ah, ja! Marlene! Eine Altgediente, auf Heteros spezialisiert. Die blonde Perücke.
»Er wurde mit einer Axt angegriffen!«, fährt sie fort und verdreht die Augen. »Arme Marlene! Seit fünfzehn Jahren arbeitet er an der Tankstelle. Der Pastor sagt, die Chancen, dass er durchkommt, stehen eins zu tausend.«
Ich kann meine Verwunderung nicht verbergen.
»Bist du mit dem Pastor befreundet?«
»Wenn man das so nennen will. Ich habe ihn kennen gelernt, als Prinz Philip erschossen wurde.«
Prinz Philip war ihr Onkel. Filippo Rasetto. Er wurde mit zwei Kugeln im Kopf in der Tiefgarage seines luxuriösen Hauses gefunden. Er war Geschäftsführer des Alcade, einer Transvestitenbar in der Nähe des Hafens. Das war lange bevor Drag-Queens in Mode waren. Ich bin fast ein Jahr lang dort aufgetreten. Piaf, Lio, Arletty, Tina Turner und andere, denen meine Figur in etwa entsprach, und viele Chansons aus der Vorkriegszeit, die gefallen mir besonders. Dort habe ich auch Maeva, Stephanie, Diana und viele andere kennen gelernt, von denen es heute einige nicht mehr unter uns gibt.
Plötzlich dringen ihre Worte in mein Gehirn vor.
»Man hat sie mit einer Axt angegriffen?«
»Ja, grauenvoll! Stell dir nur vor!«
Schritte hinter uns. Mossas müde Stimme:
»Immer noch da?«
»Sie sind gerade erst fertig mit Bo«, erklärt Diana und deutet auf meinen Gips. »Wie geht es Marlene?«
Mossa zuckt die Schultern.
»Er ist tot. Das Herz hat nicht mehr mitgemacht.«
»Oh, wie furchtbar!«, ruft Diana entsetzt aus. »Wissen Sie, wer es war?«
Er zuckt erneut die Schultern und deutet auf uns.
»Wahrscheinlich einer der Verrückten, die allabendlich zu euren Kunden gehören.«
»Mossa«, ruft der Pastor, der, sein Notizbuch in der Hand, auf uns zukommt.
Dieser Mann hat einen so lautlosen Gang wie eine Katze. Er nimmt Mossa beiseite. Wir lauschen angestrengt, Diana betrachtet dabei angelegentlich ein Plakat, das die Vorzüge einer gesunden Ernährung bei der Krebsvorsorge rühmt, während ich mich angeblich in eine Broschüre mit dem Thema »Wie bringe ich meinem Kind bei, Nein zu sagen« vertiefe. Das hätte ich zwanzig Jahre früher lesen sollen .
Gesprächsfetzen dringen zu uns herüber. Ich lausche mit weichen Knien:
». Gerichtsmediziner kommt. Meiner
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