Sein anderes Gesicht
Augenblick, als ich die breite Straße überqueren will, ergreift eine alte, gebeugte Dame meine Hand und fragt, ob ich sie hinüberbringen kann. Ich sage: »Ja, gehen wir.« Sie geht so langsam, dass ich Angst habe, wir werden überfahren. Als wir schließlich heil und gesund auf der anderen Seite ankommen, bedankt sie sich zigmal. Mich schmerzt die Vorstellung, wie sie all ihre Kräfte sammeln muss, um die andere Straßenseite zu erreichen, ehe die Ampel umspringt, mich schmerzt die Vorstellung, welche Anstrengung es sie kostet, einfach nur Brot kaufen zu gehen. Was ist los mit dir, Bo? Macht dich die Aussicht, dem Pastor gegenüberzutreten, so empfindsam?
Auf der Polizeiwache hat sich seit dem Morgen des Vortags nichts verändert. Hektik, Stress, Rauch, Kaffee. Der schlecht rasierte wachhabende Polizist sagt mir, ich solle mich in den dritten Stock begeben. Als ich vor dem Büro des Pastors stehe, klopft mein Herz, mein Kopf ist benommen, und ich habe die unbegründete Angst, es in Handschellen wieder zu verlassen.
Der Pastor tippt auf der Tastatur eines großen Computers. Er sieht kurz auf und gleich wieder auf den Bildschirm. Ich stehe schweigend da. Das Zimmer ist klein und hell. Ein Metallschrank quillt von sorgfältig beschrifteten Akten über. Ein abschließbarer Diskettenkasten steht auf dem weiß beschichteten Schreibtisch. Ein gläserner Briefbeschwerer in Form eines Ferrari. Ein Mont-Blanc-Füllfederhalter liegt auf einem Stapel Notizzettel. Durch das Fenster sehe ich eine Palme, die ihre Zweige wiegt, und eine Frau, die Wäsche aufhängt.
»Setz dich.«
Eigenartig, dass mich hier niemand siezt. Ich nehme auf einem beigefarbenen Plastikstuhl Platz. Er betrachtet meinen Look, offenbar ist Orange nicht gerade seine Lieblingsfarbe.
»Beaudoin Ancelin?«
Ich nicke.
»Geboren am 17. März 1970 in Menton?«
Dasselbe Spiel. Als wüsste er das nicht.
»Gehst du noch immer auf den Strich?«
Aha, wir kommen der Sache näher.
»Nein, seit ich aus dem Gefängnis gekommen bin, nicht mehr.«
Keine Lust, dorthin zurückzukehren, weil ich es mit einem besoffenen Kerl hinter einer Palme getrieben habe, hätte ich hinzufügen können.
Seine Finger gleiten über die Tastatur, er seufzt, lässt seine Gelenke knacken. Er beugt sich zu mir vor.
»Wo warst du letzte Nacht?«
Ich erstarre. Das riecht nach einer Falle. Ich versuche, Zeit zu gewinnen.
»Warum?«
»Ah, im >Warum< warst du also? Und wo liegt das, wenn ich fragen darf?«
»Ich war bei Linda.«
»Linda?«
»Die Kneipe >Aux Copains< in der Rue des Penitents-Blancs.«
»Hast du die Nacht dort verbracht?«
»Ja. Ich wusste nicht, wo ich schlafen sollte. Linda hat mir angeboten zu bleiben.«
»Keine feste Bleibe? Aber hier steht eine Adresse .«
Er zeigt auf seinen Bildschirm.
»Ich konnte die Miete nicht mehr bezahlen und musste ausziehen.«
»Und das hast du deinem Bewährungshelfer nicht gesagt?«
»Er liegt auf der Intensivstation.«
»Findest du das witzig?«
»Ich habe vergessen, es ihm zu sagen.«
»Na gut, auch egal. Was ich wissen will, ist, ob jemand bestätigen kann, dass du die Nacht dort verbracht hast.«
»Ja, Linda.«
»Wann bist du gekommen?«
»Ich weiß nicht, gegen dreiundzwanzig Uhr oder Mitternacht.«
»Und vorher?«
»Ich habe mit Freunden in der Pizzeria >Chez Reynaldo< gegessen.«
»Mit Freunden?«
»Mit Bekannten.«
»Mit Cargese und Belmonte«, erklärt er mit der Jovialität eines Leichenbestatters.
Er weiß also Bescheid. Ich kann nur eines denken: »Johnny ist tot, man hat ihn ermordet, und er glaubt, dass ich es war.« Meine Worte überstürzen sich.
»Ist etwas passiert?«
»Wie scharfsinnig die kleine Bo doch ist!«
Ich reagiere nicht. Ich warte.
»Einer deiner Freunde ist ermordet worden.«
Ich wusste es! Das Herz rutscht mir in Schwindel erregendem Tempo in die Hose.
»Raymond Makatea.«
Überrascht wiederhole ich:
»Makatea? Kenne ich nicht.«
Er zeigt das Lächeln eines Pastors, der einen Wiederholungssünder ertappt.
»Aber sicher kennst du ihn. Deine Freundin Maeva.«
Maeva! Das ist doch nicht möglich! Noch gestern Nachmittag .
Mit zitternder Stimme höre ich mich fragen:
»Wann?«
»Heute Nacht. Jemand hat sie mit einem Messer getötet. Ein wahres Blutbad.«
»Oh! Nein!«
Kurzes Schweigen. Ich stehe unter Schock. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir kaum vierundzwanzig Stunden vor ihrem Tod noch zusammen Kaffee getrunken haben. Dann erinnere ich mich, dass er mich gefragt
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