Sein anderes Gesicht
Es fällt mir schwer.
Die Straße ist leer, alles ist ruhig. Die Polizei scheint abgerückt zu sein. Als ich vor dem Haus vorbeigehe, müht sich eine alte Dame in einem perlgrauen Mantel ab, eine große Einkaufstasche durch die schwere Tür zu schieben. Und wenn das Maevas Nachbarin, die Witwe, ist? Ich laufe hin und halte ihr die Tür auf.
»Vielen Dank, Mada . ehm . Monsieur .«
»Keine Ursache.«
»Wissen Sie, ich sehe nicht mehr sehr gut«, entschuldigt sie sich.
»Das macht nichts, die Leute täuschen sich oft.«
Seufzend packt sie die Tasche, aus der Mangoldblätter ragen, und schleift sie zur Treppe.
Ich strecke meine gesunde Hand aus, um sie zu ergreifen.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Sie ist kleiner als ich und hebt den Kopf, um zwei verschmitzte, haselnussbraune Augen auf mich zu richten.
»Ich hoffe, Sie sind kein Dieb.«
Ich beruhige sie mit einem kindlich unschuldigen Lächeln.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin eine Freundin von Maeva, der Dame aus dem dritten Stock.«
Sie erbleicht, lässt die Tasche fallen und faltet die Hände.
»O mein Gott, Sie wissen es noch nicht!«
Erstaunter Blick von Bo.
»Was denn?«
Sie zieht mich zu den Briefkästen und eröffnet mir die grauenvolle Neuigkeit. Ohne mich allzu sehr zwingen zu müssen, mime ich Entsetzen. Fünf Minuten später lädt sie mich auf ein Glas ein.
Gemeinsam steigen wir langsam die Treppe hinauf, ich wegen der schweren Einkaufstasche, sie, um nicht außer Atem zu geraten. Es kommt mir komisch vor, plötzlich vor Maevas Tür zu stehen, an der ich noch gestern als Elsa verkleidet geläutet habe. Heute stehe ich auf der anderen Seite des Treppenabsatzes. Auf einem vergilbten Schild an der Tür der alten Dame steht in violetten Versalien: LOUISETTE VINCENT. Louisette führt mich in eine dunkle Dreizimmerwohnung, die mit Möbeln unterschiedlichster Stilrichtungen und jeder Menge Nippes vollgestopft ist. Hier müsste dringend Staub gewischt werden. Auf einer Anrichte im Louis-Philippe-Stil thront ein großer Fernseher. An der Wand hängt in einem breiten Rahmen die vergilbte Fotografie eines uniformierten Mannes mit sorgsam gestutztem Schnauzer und kohlschwarzen Augen.
»Fernand, mein erster Ehemann, er war Wanderschauspieler«, erklärt sie, ehe sie auf ein anderes gerahmtes Bild deutet, auf dem ein dicker, bärtiger Mann in Bermudas und mit Kochmütze lächelnd vor einer Bouillabaisse steht. Raymond, ihr zweiter Mann, war Chefkoch. Er ist vor acht Jahren gestorben, der Ärmste. Zu reichhaltig gegessen. Aber was für ein guter Mensch!
Sie führt mich zu einem dritten Bild, auf dem eine junge Frau mit schwarz geschminktem Gesicht und einem Bananenröckchen bekleidet zu sehen ist, die sich in den Hüften wiegt und mit den Augen rollt.
»Und das bin ich. Bei einer Imitation von Josephine Baker. Ich war Tänzerin … Revuetänzerin.«
Ich betrachte die alte Dame mit dem grauen Haarknoten, die mir gegenübersteht: faltiges Gesicht, weiße Bluse mit Stehkragen, Tweedrock. Sie tätschelt meine Hand.
»Nun ja, man verändert sich! Aber das nur, um zu sagen, dass ich das Leben gekannt habe. Also, Maeva …« »Wussten Sie, dass sie ein Transvestit war?«
Die Alte nickt.
»Sie meinen, dass sie keine … dass sie noch ein Mann war? Portwein oder Pastis?«
»Portwein bitte.«
»Nehmen Sie doch auf dem Sofa Platz, von dort aus hat man einen Blick auf das Meer.«
Ich setze mich, aber ich sehe kein Meer, weil die Vorhänge zugezogen sind.
Sie kommt mit einem Tablett zurück, auf dem eine Karaffe und zwei kleine Gläser aus geschliffenem Kristall stehen, und stellt es auf dem Couchtisch aus Mahagoniholz ab. Ich habe das Gefühl, in einem bürgerlichen Drama ein junges Fräulein aus gutem Haus zu spielen. Sie fragt mich, was mit meinem Arm passiert sei, und ich gebe zum hundertsten Mal die Treppenversion zum Besten. Dann trinke ich einen Schluck Port und mache ihr ein Kompliment wegen der guten Qualität. Sie dankt mir und seufzt: »Dieses arme Geschöpf . « Ich begreife, dass sie von Maeva spricht.
»Haben Sie sie gestern Abend gesehen?«
»Ja, stellen Sie sich vor, wir haben zusammen zu Abend gegessen . Nun denken Sie doch nur .«
Sie erzählt mir von dem Abend, von Maevas letztem Abend. Ihre Schilderung deckt sich mit den Auskünften des Pastors.
»Wenn ich gewusst hätte, dass ich sie nie wieder sehen würde … Ihr Leben war nicht einfach - Sie verstehen, was ich meine -, aber sie hatte immer ein freundliches Wort
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