Sein anderes Gesicht
Dir hätte man die Zunge abschneiden sollen!«
»Ich entschuldige mich. Es tut mir wirklich Leid.«
Plötzlich wird mir bewusst, was er da gesagt hat.
»Woher weißt du das?«
»Was?«, fragt er und zieht die buschigen Augenbrauen hoch.
»Das mit der Zunge«, erkläre ich und sehe ihn fest an.
Er wendet den Blick ab.
»Nicht nur du hast Freunde bei den Bullen.«
Johnny unterbricht uns.
»Deine Geschichten sind uns scheißegal. He! Reynaldo, wo bleibt die Pizza?«
Reynaldo wendet sich zu dem Pizzabäcker um.
»Verdammt, Youssef, wo bleibt die Pizza?«
»Sie kommt, Chef, sie kommt.«
»Sie kommt, Johnny, sie kommt.«
»Und was hast du mit deinem Arm gemacht?«, erkundigt sich Bull. »Bist du schon wieder jemandem auf den Wecker gefallen?«
»Ich bin die Treppe runtergefallen.«
»Es gibt doch noch Gerechtigkeit!«, brüllt er und schenkt sich Wein ein. »Schade, dass du dir nicht den Hals gebrochen hast.«
»Nächstes Mal versuche ich, es besser zu machen.«
Johnny macht mir ein Zeichen.
»Setz dich, es geht mir auf die Nerven, wenn du so rumstehst. Aber ich warne dich: Ich zahle dein Essen nicht.«
Ich ziehe einen Hundert-Franc-Schein aus der Tasche. Die Pizzen werden gebracht. Ich bestelle eine mit Lachs. Youssef reagiert nicht. Johnny wiederholt meine Bestellung, daraufhin nickt er und geht.
»Du verstehst es nicht, mit Männern zu reden«, murmelt Johnny.
Bull schlägt mir auf den Rücken.
»Da er sich für eine Frau hält, sind dem armen Bo die Eier in den Büstenhalter gerutscht.«
Er lacht als Einziger. Johnny untersucht seine Pizza mit Anchovis, schiebt eine Olive beiseite. Ich betrachte seine Hände. Kräftige Hände mit gewölbten, gerade geschnittenen Nägeln, sehr sauber. Breite Daumen mit eckigen Gliedmaßen. Daumen, die eine Halsschlagader zudrücken könnten. Breite, glatte Handflächen, deren Linien kaum zu erkennen sind. Latex-Hände. Johnny erinnert insgesamt an einen Mann aus Latex. Ein Wesen, das von den anderen Menschen durch einen unsichtbaren Plastikfilm getrennt ist. Ihn darf ich nie Axelle vorstellen.
Meine Pizza wird gebracht. Verbrannt. Youssef sieht mich herausfordernd an. Ich sage nichts. Ich habe keinen großen Hunger, denn ich bin nicht daran gewöhnt, so oft zu essen. Bull beschreibt uns seine Beziehung zu einem Mädchen, das er in der Nähe des Gymnasiums aufgerissen hat. Eine Kleine, der er auf der Ladefläche seines RenaultExpress die Kunst der Fellatio beibringt. Ich sage mir, dass ich bei einem solchen Lehrer keine Konkurrenz zu befürchten habe. Das erinnert mich an meine Schulzeit. Ich stand in dem Ruf, es von allen Sekundanern am besten zu können. Die Mädchen waren eifersüchtig. Einmal hat mir eine die Fingernägel ins Gesicht geschlagen. Die Jungen haben sich halb tot gelacht. Beinahe hätte sie mir ein Auge ausgekratzt, ich blutete wie ein Schwein. Drei Lehrer waren nötig, um uns zu trennen, danach hat man mich von der Schule verwiesen und meinem Vater geraten, mich zum Psychiater zu schicken. Man konnte nicht länger einen männlichen Schüler in der Klasse dulden, der sich die Nägel lackierte, die Wimpern tuschte, Ohrringe trug, die einer Liz Taylor würdig wären, und wie ein Topmodel hüftschwingend über den Schulhof lief.
An der Theke ereifern sich die Wildschweinjäger. Ihre Nasen werden immer länger und röter. Ihre Scherze werden immer derber, das Lachen ordinär, die unvermeidlichen Geschichten über Schwule werden erzählt. Glückseliges Gejohle bei den zweibeinigen Schweinen. Es bedarf nicht viel, um glücklich zu sein. Ich muss wirklich blöd sein, dass mir das nicht gelingt. Johnny hat fertig gegessen, die Hälfte seiner Pizza lässt er liegen, er wirft Geld auf den Tisch und erhebt sich.
»Also, ciao, Leute.«
Ich bin schon aufgesprungen, lege einen Geldschein neben meinen Teller und folge ihm. Bull brummt:
»Jetzt haut ihr einfach ab, Scheiße!«
Johnny stößt die Tür auf, wir stehen draußen auf dem nassen Gehsteig.
»Ich habe eine Frau kennen gelernt«, sagt er unvermittelt.
Der Schmerz durchzuckt meinen Körper bis in die Knöchel.
»Eine richtige Frau«, fügt er hinzu, »mit allem, was dazu gehört und wo es hingehört.«
Ich halte mich an der verputzten Mauer fest und stammele:
»Wer ist es?«
»Was geht dich das an? Eine Frau. Sie gefällt mir. Ich gefalle ihr. Also bist du überflüssig.«
»Ich verlange nicht, dass du mich liebst.«
»Du verlangst aber, dass ich deine Liebe akzeptiere, und das geht mir auf
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