Sein anderes Gesicht
Scheiße.«
Mit großen Schritten eilt er davon, und ich bin sicher, dass ich alles verdorben habe.
Mechanisch behalte ich weiter den Eingang zu Johnnys Haus im Auge. Bull wird niemals mehr durch diese Tür kommen. Warum habe ich Mossa nicht einfach erzählt, was Bull mir gesagt hat? Warum tue ich niemals das Richtige? Linda kommt und setzt sich neben mich.
»Was war denn mit Mossa los?«
»Ich weiß nicht, er ist ausgerastet.«
»Ich hatte eher den Eindruck, dass du ausgerastet bist«, meint sie. »Warum sitzt du hier auf der Lauer? Kannst du an nichts anderes als an diesen Johnny denken?«
Nein, kann ich nicht. Es ist bescheuert, aber so ist es nun mal, denke ich mir.
»Hast du was Neues erfahren?«
Ich zucke die Schultern. Sie dreht sich seufzend um und geht wieder hinein.
Und plötzlich habe ich eine Idee: das Ambassador. Es wird ihm nicht gefallen, aber das ist mir egal. Ich gehe in meine Mansarde hinauf, um mich herzurichten, ziehe einen schwarzen Wollpullover an, der weit genug ist, damit ich mit meinem Gipsarm hineinschlüpfen kann. Schwarze Samtjeans, dazu passende Schuhe - Doc Martens. Ich tausche meine Kreolen gegen zwei kleine tropfenförmige Ohrringe aus schwarzem Obsidian. Dreireihiges, super-klassisches Perlencollier, KordelArmbänder. Ich bürste mein Haar, das knistert, und schminke mich sorgfältig. Du siehst umwerfend aus, meine Liebe, sage ich zu meinem Spiegelbild und werfe mir eine Kusshand zu. Ein klein bisschen gruftig, was aber ausgezeichnet zu meiner Stimmung passt.
Das Wetter ist herrlich. Als ich direkt an ihr vorbeigehe, erkennt Miranda mich nicht. Im grellen Sonnenlicht sieht sie wie eine Mumie aus, deren Teint mit einer dicken Make-up-Schicht aufpoliert wurde. Während die anderen Frauen ihres Alters in Grüppchen auf der Promenade sitzen und ein Schwätzchen halten, stellt sie in hautengen Mini-Shorts, unter denen die Zellulitis hervorquillt, ihre Krampfadern zur Schau. Das bringt mich auf die Idee, sie zum Tee einzuladen.
»Begrüßt du deine Freundinnen nicht mehr?«, spreche ich sie an.
»Was?! Schieb ab . Oh, Bo! Du bist es, Liebes! Gehst du in die Kirche oder was?«
»Ich suche Johnny.«
»Du kannst einfach nicht die Finger von diesem Dreckskerl lassen. Was?!«
Zwei Gymnasiastinnen gehen kichernd an uns vorbei.
»Hallo, hallo, meine Kleinen! Euch macht es Mama Miranda fast umsonst!«
Puterrot laufen sie schleunigst weiter.
Um überhaupt etwas zu sagen, frage ich sie:
»Und Elvira?«
»Ich weiß nicht. Sie ist nicht gekommen. Karen sagt, sie hat sie vor dem Kasino gesehen. Sie ist ein bisschen verrückt, die Elvira.«
Für einen kurzen Moment sehe ich vor meinem geistigen Auge eine wütende Elvira, die auf einen spöttelnden Johnny zielt und ihn erschießt. Ein sauberes, kleines Loch genau zwischen Johnnys blaue Augen. Und dann setzt sich Elvira nach Italien ab. Ich verabschiede mich von Miranda und gehe.
Ein paar Kinder fahren unter den liebevoll gerührten Blicken ihrer Großmütter auf Dreirädern am Strand entlang. Meine Großmutter kennt nicht einmal meinen Namen. Ihr wäre es lieber, es hätte mich nie gegeben.
Die Palmen vor dem Hotel wiegen sich sanft im Wind. Mit zugeschnürtem Magen steige ich die Stufen zum Eingang hinauf und gehe geradewegs in den California Grill. Die Blondine ist da und will mir schon die Speisekarte reichen, als ich ihr sage, dass ich zu Monsieur Garnier möchte. Sie mustert mich und fragt sich offensichtlich, was ein kleines, ambivalentes Geschöpf wie ich vom zugeknöpften Jonathan wollen kann. Dann lässt sie sich aber doch widerwillig herab, mich aufzuklären. Er sei nicht da.
»Wie lange?«
»Das weiß ich nicht. Da müssten Sie unseren Personalchef, Monsieur Tomaso, fragen. Er wird heute ab achtzehn Uhr im Haus sein.«
Ich danke ihr ebenso freundlich, wie sie mich empfangen hat, und mache mich auf die Suche nach dem kleinen, pfiffigen Hotelpagen. Er steht an einer Säule und döst vor sich hin. Er grüßt mich, ohne sich das geringste Erstaunen über meine Geschlechtsumwandlung anmerken zu lassen. Er scheint erfreut, mich zu sehen, ist aber gleich weniger erfreut, als ich ihm sage, dass ich auf der Suche nach Jonathan bin.
»Schon wieder! Das ist ja eine regelrechte Manie!«
»Es ist wichtig. Eine persönliche Angelegenheit.«
»Ja, das kann ich mir denken . Unser lieber Garnier ist nicht da. Er hat unbezahlten Urlaub genommen, um nach Hause, nach La Reunion, zu fahren und seinen alten, schwer kranken Vater zu
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