Sein anderes Gesicht
Pärchen die Straßenseite wechselt. In meinem Kopf dreht sich alles, die Bier-Campari-Tabletten-Mischung hat eine verheerende Wirkung. Ich muss weitergehen, dieses Gefühl wieder loswerden! Ich gehe an den Hauswänden entlang für den Fall, dass ich das Gleichgewicht verlieren sollte, doch nein, alles geht glatt, bis auf die Tatsache, dass ich mal wieder ziellos durch die Gegend laufe.
Zwei Stunden später habe ich wieder einen klaren Kopf, doch jetzt tun mir die Füße weh.
In jämmerlichem Zustand laufe ich in Lindas Kneipe ein. Ich schleppe mich nach oben in die Mansarde und falle auf das durchgelegene Bett. Kaum hat mein Kopf das Kissen berührt, schlafe ich auch schon ein.
Drei Tage hat Johnny sich nicht mehr blicken lassen. Drei Tage voller Angst und Frust, drei Tage, in denen ich die Stadt durchstreift habe wie ein fahrender Ritter. Kein Drache hat meinen Weg gekreuzt, den ich hätte niederstrecken können, um bei meiner Suche nach dem heiligen Gral eine höhere Stufe zu erlangen, denn mein Gral ist der Drache selbst, und da ich ihn nicht töten kann, bin ich dazu verdammt, ziellos umherzuirren.
Schließlich nehme ich meinen Beobachtungsposten bei Linda wieder ein, wo ich fieberhaft alle Zeitungen lese, die ich in die Finger kriege. Wie es scheint, machen die Ermittlungen Fortschritte. Mossa kommt vorbei, um Zigaretten zu kaufen. Er erzählt mir, dass die Ermittlungen keineswegs vorankommen, und will wissen, ob ich Farida kenne. Ich erkläre ihm, dass sie nicht auf Polizisten steht, er lacht und versetzt mir eine freundschaftliche Kopfnuss. Ich erkundige mich, was die graphologischen Untersuchungen ergeben haben.
»Nicht viel. Einer der beiden Experten ist sicher, dass es Maeva war, die die Buchstaben an die Wand geschrieben hat, der andere ist sicher, dass sie es nicht war. Sie war praktisch Analphabetin«, erklärt er mir.
Ich tue überrascht.
»Ach, tatsächlich?«
Ich sollte es zur Abwechslung mal mit »Nein, wirklich?« oder mit »Das ist doch nicht möglich!« probieren.
»Das Abschreiben der Rezepte war für sie kein so großes Problem«, führt Mossa genauer aus, »doch alles andere notierte sie rein phonetisch. Doch das hilft uns leider nicht weiter.«
Ich wage einen Vorstoß.
»Ich habe übrigens mit der Witwe von gegenüber gesprochen. Sie meinte, Bo könnten die Anfangsbuchstaben eines Nachnamens sein.«
»Daran hat der Pastor auch schon gedacht. Weißt du, er hat dich eigentlich nicht wirklich im Verdacht. Er macht nur seine Arbeit, das ist alles.«
»Na, da bin ich ja beruhigt. Wenn ich für den Mord, den ich nicht begangen habe, in den Knast wandere, weiß ich wenigstens, dass der Bulle, dem ich das verdanke, in Ordnung ist.«
Achselzuckend meint Mossa:
»Ach, hör schon auf mit dem Theater. Sie nehmen gerade Maevas Vergangenheit unter die Lupe. Vielleicht verbirgt sich ja dort das Motiv. Wusstest du übrigens, dass Maeva verheiratet war?«
»Verheiratet? Mit einem Mann oder einer Frau?«
»Was glaubst du denn, du Pflaume? Mit einer Frau natürlich. Er war damals achtzehn, und die Ehe ging nach sechs Monaten in die Brüche. Sie haben ein Kind, das heute dreißig Jahre alt ist und niemals seinen Vater kennen gelernt hat. Robert Makatea.«
Maeva als Papa? Das stimmt mich auch nicht fröhlicher. Mossa wirkt ebenso bedrückt wie ich und genehmigt sich ein zweites Glas Cola, bevor er weiterspricht:
»Seine Mutter hat ihn zum Studieren nach Frankreich geschickt. Er ist Informatiker und lebt in Marseille.«
Maevas Sohn ein Informatiker!
»Maeva ist mit seiner Exfrau immer in Kontakt geblieben. Wir haben Briefe gefunden und Fotos von dem Kind. Maeva hat sein Studium bezahlt, heimlich. Er hatte seiner Frau verboten, dem Jungen irgendetwas über sich zu erzählen.«
»Haben Sie ihn ausfindig machen können?«
»Ja, er ist vorgestern hier gewesen, doch er hat sich geweigert, den Leichnam anzusehen. Er wird nicht sonderlich entzückt gewesen sein, zu erfahren, dass sein Vater als Transvestit auf den Strich ging.«
»Ein diplomierter Ingenieur aus Harvard wäre ihm mit Sicherheit lieber gewesen.«
»Wir haben alle unsere Fehler«, meint Mossa und fängt an, in der Nase zu bohren. Der Popel, den er zu Tage fördert und wegschnippt, landet auf dem ledernen Aktenkoffer eines Mannes, der gerade vorbeihastet.
Vertreiben sich etwa alle Bullen die Zeit damit, in der Nase zu bohren?
»Was ist mit den anderen Morden?«, erkundige ich mich. »Die Russin, Natty, Marlene …«
»Tja, da
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