Sein anderes Gesicht
Für ihn ist das doch nur ein Spiel nach dem Motto »Seht her, ich bin der Stärkste«. Infantiles Männergehabe. Wie komme ich nur dazu, mir solche Sachen vorzustellen?
Mein Psychiater würde sagen, dass ich ihm Allmacht verleihen will. »Eine Projektion der Hassliebe zu Ihrem Vater, nicht wahr, meine kleine Bo. Wenn Sie doch nur aufhören würden, ständig über diesen Mann zu phantasieren und in Frauenkleidern herumzulaufen! Man hat Ihnen schließlich erklärt, dass es sich um eine extrem stark ausgeprägte Neurose handelt!«
Diese Stadt hat vierhunderttausend Einwohner. Warum sollte es ausgerechnet er gewesen sein? Warum ausgerechnet mein Typ? Verdammt, Louisette, sag mir, dass das nicht wahr ist, dass er niemals bei Maeva gewesen ist! Und selbst wenn er - riskieren wir mal eine gewagte These - sexuelle Beziehungen zu Maeva unterhalten hätte, bedeutet das noch lange nicht, dass er auch ihr Mörder ist. Hier, mein lieber Watson, handelt es sich möglicherweise um einen puren Zufall.
Um neunzehn Uhr halte ich es nicht länger aus. Wo kann sich Louisette nur so lange herumtreiben? Es sei denn, ich hätte in dem Moment, als sie ins Haus ging, gerade nicht aufgepasst. Um Gewissheit zu haben, beschließe ich, noch einmal zurückzugehen und bei ihr zu klingeln.
Ich stehe auf und gehe. Als ich die Eingangstür zu ihrem Haus aufstoße, setzt mein Herz vor Schreck aus: Im Flur steht ein Mann. Groß, kräftig, Igelfrisur - der Tahitianer!
Er starrt mich an, und auf einmal werden seine Augen ganz weit. Ich versuche wegzulaufen, doch er packt mich mit aller Kraft am Arm und drückt mich gegen die Wand.
»Du miese kleine Nutte!«, fährt er mich an. »Du bist doch Bo, nicht wahr! Ja, du bist es, du Miststück!«
Ich bin wie gelähmt. Einerseits, weil er die Wahrheit sagt; andererseits, weil er ein Messer aus seiner Tasche hervorzieht. Ein schön scharfes Taschenmesser. Träume ich etwa?
Er geht mit dem Messer in der Hand auf mich los, und schlagartig wird mir klar, dass ich nicht träume. Ich springe mit einem Satz zur Seite, und die spitze Klinge verfehlt meinen Hals nur um wenige Zentimeter.
Ich stürze ein paar Treppenstufen hinauf, doch schon ist er, wie ein wilder Stier schnaubend, hinter mir. Ich halte mich mit meinem gesunden Arm am Treppengeländer fest und stoße mein ausgestrecktes Bein mit der kraftvollen Anmut einer Esther Williams bei einem ihrer Wasserballetts gegen seinen Kopf. Seine Nase macht mit der verstärkten Schuhspitze meiner Doc Martens Bekanntschaft: Blut rinnt ihm aus den Nasenlöchern. Er gibt ein Furcht erregendes Grunzen von sich und setzt erneut zum Angriff an, doch nun habe ich einen Vorsprung, und in dem Augenblick, in dem er den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht, steige ich auf das Treppengeländer und springe ins Erdgeschoss. Junge und robuste Kniegelenke, geschmeidige und elastische Knöchel fangen den Aufprall ab. Der Kerl läuft hektisch die Treppe herunter, wobei er wild mit dem Messer herumfuchtelt. Ich renne aus dem Haus, ziehe die Tür hinter mir zu und mache sie, als ich seine Schritte näher kommen höre, schwungvoll wieder auf.
Nun quillt das Blut nicht nur aus seiner Nase, sondern auch aus seinem Mund. Benommen lässt er das Messer los und sinkt mit glasigem Blick zu Boden.
»Arschloch …«, kann er gerade noch hervorbringen.
Ich hebe das Messer auf, richte es mit der Eleganz eines El Cordobes auf ihn, der sich anschickt, dem Stier den Todesstoß zu versetzen, und frage ihn höflich:
»Würden Sie mir freundlicherweise erklären, was ich Ihnen getan habe?«
»Mach dich nur über mich lustig«, stößt er, nach Luft keuchend, hervor. »Aber ich schwöre dir, das werde ich dir heimzahlen.«
»Heimzahlen? Was denn? Verdammt, ich verstehe kein Wort, was reden Sie da eigentlich?«
Er rappelt sich auf, ich trete zur Seite, er umklammert den Türknauf. Ich drohe ihm mit dem Messer.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«
»Ach, scher dich zum Teufel!«
Er öffnet die Tür und geht auf unsicheren Beinen hinaus.
»Ich kriege dich«, ruft er mir noch zu, als er sich langsam entfernt.
Ich sehe ihn weggehen, doch ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich will ihm gerade nachlaufen, als mein Blick auf die beiden Buchstaben fällt, die in den Holzgriff des Messers eingraviert sind: R.M. Maevas Initialen … Allmächtiger! Der Kerl hat das Messer in ihrer Wohnung mitgehen lassen. Er ist gekommen, um hier herumzuschnüffeln. Louisette .
Ich laufe die Treppe, immer
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